Bettler 01 - Bettler in Spanien
über Xenophobie, über Zwischenfälle, die auch Miri zwischen Normalen und SuperS in der Schule, in den Labors und auf dem Spielplatz miterlebt hatte und an die sie nun erinnert wurde. Faktoren der sozialen Eigendynamik und der psychologischen Abwehrmechanismen gegen Minderwertigkeitsgefühle wurden verknüpft mit historischen Verhaltensmustern auf der Erde: Assimilation. Religiöser Eifer gegen Ketzer. Klassenkampf. Leibeigenschaft und Sklaverei. Karl Marx, John Knox, Lord Acton.
Es war das komplizierteste Fadengebäude, das Miri je gesehen hatte. Sie wußte, ohne danach zu fragen, daß Nikos nach Tonys Autopsie einen ganzen Tag gebraucht hatte, um es zu durchdenken, daß es auch die Beiträge und Ideen der anderen SuperS repräsentierte und daß es die bedeutsamste Fadenkonstruktion war, mit der sie sich in ihrem ganzen Leben beschäftigt hatte, sowohl in Gedanken, als auch in Gefühlen.
Und daß etwas – immer noch, wie immer! – daran fehlte.
Nikos sagte: »T-T-T-Tony h-h-hat m-mir’s b-b-beigeb-b-bracht.«
Miri antwortete nicht. Sie merkte, daß Nikos das, was ohnedies alle wußten, nur gesagt hatte, um nicht etwas anderes auszusprechen, das, was jedes Element in dem komplexen Aufbau seiner Fäden besagte: Die NormS halten uns SuperS für so verschieden, daß sie uns als getrennte Gemeinschaft betrachten, von ihnen geschaffen, um der ihren dienlich zu sein. Sie wissen nicht, daß sie so denken, sie würden es gewiß in Abrede stellen – aber sie tun es dennoch.
Sie blickte in die Runde der anderen Kinder; sie verstanden es alle. Es waren keine Kinder mehr, nicht einmal die Elfjährigen – nicht in dem Sinn, in dem Miri mit elf ein Kind gewesen war. Jede neue Genmodifikation hatte das Potential für neue Denkbahnen im Gehirn geöffnet. Jede weitere genetische Veränderung hatte die Nutzungsbereiche jener Strukturen der Großhirnrinde ausgedehnt, die einst nur in Zeiten übermäßigen Stresses oder stark angespannter Sinne zur Verfügung standen. Jede neue Modifikation hatte die Unterschiede zu den normal Schlaflosen, die sie vorgenommen hatten, verstärkt. Und diese SuperS, ganz besonders die jüngsten, waren nur noch im weitesten biologischen Sinn Kinder der Normalen.
Und sie, Miri selbst – inwieweit war sie das Kind von Hermione Wells Keller, die es nicht ertrug, sie auch nur anzusehen? Miri, die Tochter von Richard Anthony Keller, dessen Intelligenz bei weitem nicht an jene seiner Mutter heranreichte? Die Enkeltochter von Jennifer Fatima Sharifi, die Tony einer Gesellschaft geopfert hatte, deren Definition nur Jennifers eigenem Dafürhalten unterlag?
»M-M-M-Miri, iß«, drängte Christina leise.
Nikos sagte: »W-W-W-Wir d-d-dürfen n-n-n-nicht z-zulassen, d-d-daß s-s-sie es n-n-noch mal t-t-tun!«
»W-W-Wir k-k-k-k-k-…« Allen zuckte frustriert die Achseln. Er hatte es mit dem Sprechen immer schon schwerer gehabt als die anderen; manchmal sagte er tagelang kein Wort. Er stieß Miri von der Konsole weg, rief sein eigenes Fadenprogramm auf, ließ die Finger rasch über die Tastatur gleiten und übertrug das Resultat in Miris Programm. Als er damit fertig war, erkannte sie aus der perfekten Anordnung und Zusammensetzung der Fäden, daß die SuperS sich durch eine Pauschalbeurteilung der NormS moralisch ebenso ins Unrecht setzen würden wie der Hohe Rat von Sanctuary. Daß jeder Mensch, Super- oder NormalSchlafloser, als Individuum beurteilt werden müßte, und daß dieser Prozeß sorgfältig mit der Notwendigkeit geheimen Vorgehens in Einklang gebracht werden sollte. Sie konnten bereits eine komplette verdeckte Kontrolle über sämtliche Computersysteme in Sanctuary sicherstellen, wenn diese Kontrolle zu ihrem Selbstschutz nötig sein sollte, aber sie konnten keine vollständige Kontrolle über die Normalen sicherstellen, die sie in ihre Schutzmaßnahmen eingeschlossen hatten – Schutzmaßnahmen, die verhindern sollten, daß je wieder ein Super vom Hohen Rat getötet wurde. Es war ein Risiko, das sich die Waage halten sollte mit dem moralischen Dilemma, zu dem zu werden, was sie am Hohen Rat verurteilten. Die moralischen Facetten zogen sich funkelnd durch Aliens Fadengebilde; bei Nikos gab es nichts in Frage Gestelltes.
Miri studierte die Projektion, und die Fäden in ihrem eigenen Kopf formten und verknoteten sich rascher als je zuvor in ihrem Leben. Sie fühlte sich nicht moralisch gefestigt; sie fühlte nichts als Haß auf alle, die für Tonys Tod verantwortlich waren. Und doch sah sie
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