Bettler 01 - Bettler in Spanien
Drew blickte ihn an, blickte auf den gutaussehenden, ernsten Mann, zu dem Eric geworden war, und die Formen in seinem Kopf wurden klarer und glitten schneller dahin. Nein, er wollte keine Formen, diesmal wollte er das Wort. Er war entschlossen, das Wort für Eric zu finden, der wohl auch Staub sein mochte, aber immerhin qualitativ hochstehender, echtlederner, durch und durch platinener Staub, über den nichts hinwegstrich, um ihn der Vergänglichkeit anheimfallen zu lassen, denn Eric war ein Schlafloser, dem Talente und Macht in die Wiege gelegt worden waren, ganz egal, wieviel jugendliche Rebellion er einst ausgelebt hatte. Drew wollte das Wort für Richard, der mit gesenkten Augen neben seiner Schläfer-Frau und seinem kleinen Jungen stand und so tat, als wäre er wie sie. Das Wort für Jordan, Alices Sohn, der sein Leben lang hin und her gerissen wurde zwischen seiner Schläfer-Mutter und seiner brillanten Schlaflosen-Tante, und dem nur seine eigene Fairness dabei zur Seite stand. Das Wort für Leisha, die – wenn das stimmte, was Kevin Baker Drew verraten hatte – in ihrem Leben Schläfer weitaus mehr geliebt hatte als jeden Schlaflosen: ihren Vater, Alice, Drew.
Er konnte das rechte Wort nicht finden.
Jordan las nun aus einem anderen alten Buch (sie kannten alle so viele alte Bücher!): »Schlaf nach des langen Tages Mühe, Hafen nach der sturmgepeitschten See, Seelenfrieden nach dem Kriege, Tod nach dem Leben…«
Leisha hob den Blick vom Sarg. Ihr Gesicht war starr, hart. Das Licht des Wüstenhimmels legte sich auf ihre faltenlosen Wangen, die blassen, zusammengepreßten Lippen. Sie sah nicht Drew an, sondern die windgeglätteten Steine links und rechts von Alices Grabstelle – BECKER EDWARD WATROUS und SUSAN CATHERINE MELLING – und dann geradeaus ins Leere. Doch auch ohne einen Blick mit ihr zu wechseln wurde Drew mit einemmal aus den fließenden Formen in seinem Kopf und aus Leishas unbeugsamer Gestalt vor seinen Augen klar, daß er niemals mit ihr schlafen würde. Sie würde ihn nie anders lieben denn als Sohn, weil sie in ihm zuallererst einen Sohn gesehen hatte und weil sie ihre wichtigsten Formen nie änderte. Sie konnte es nicht. Sie blieb das, was sie war. Das traf für die meisten Leute zu, aber für Leisha in besonderem Maße. Sie bog sich nicht, sie beugte sich nicht. Das war etwas, das in ihr steckte, etwas, das von der Schlaflosigkeit herrührte – nein, es war etwas, das eben nicht in ihr steckte, weil es durch das Vorhandensein der Schlaflosigkeit verhindert wurde. Es ließ sich einfach nicht definieren. Aber es fand sich in allen Schlaflosen – diese Inflexibilität, die Unfähigkeit, Kategorien zu ändern –, und deshalb würde Leisha ihn nie so lieben, wie er sie liebte. Nie.
Schmerz durchfuhr ihn, so heftig, daß er einen Moment lang Alices Sarg unten in der Erde nicht mehr sehen konnte. Alice, deren Liebe Drew in seinem Heranwachsen geleitet hatte, wie es Leishas Liebe nie gekonnt hätte. Sein Blick wurde wieder klar, und er ließ dem Schmerz freien Lauf, bis er zu einer weiteren Form in seinem Kopf wurde, zu einer rauhen, groben, zerrissenen Form – jedoch rauher, grober und zerrissener als der Schmerz und er selbst und daher erträglich.
Er konnte Leisha nicht haben. Nie.
Dann blieb ihm nur noch Sanctuary.
Wiederum blickte er in die Runde. Stella verbarg das Gesicht an der Schulter ihres Mannes. Die Tochter der beiden, Alicia, hatte die Hände auf die Schultern ihrer kleinen Töchter gelegt. Richard hielt die Augen immer noch gesenkt, und Drew konnte sie nicht sehen. Leisha stand etwas abseits; das gleißende Wüstenlicht offenbarte ihre jugendliche Haut, die faltenlosen Augenwinkel, die hart aufeinandergepreßten Lippen.
Das Wort war da – das Wort, dem Drew nachgejagt war, das, was ihnen allen fehlte, all jenen Schlaflosen, die um den liebsten Menschen trauerten, der nicht einer von ihnen gewesen und gerade deshalb der liebste war:
Das Wort lautete ›Bedauern‹.
Wütend beugte Miri sich über ihr Terminal. Sowohl der Bildschirm als auch die Werte der Meßgeräte sagten dasselbe: Das Modell dieses synthetischen Neurotransmitters leistete noch weniger als das letzte. Oder die letzten beiden. Oder die letzten zehn. Die Laborratten, deren Gehirne von dem, was die Antwort auf Miris Problem sein sollte, völlig durcheinandergebracht waren, standen unschlüssig in ihren Scannerkäfigen. Das kleinste der drei Tiere gab auf; es legte sich hin und schlief
Weitere Kostenlose Bücher