Bettler 01 - Bettler in Spanien
dessen Modell sie auf ihrem Arbeitsterminal entworfen hatte; es wartete die langwierige Aufgabe, vom Computer winzige hypothetische Abweichungen von dieser Formel – die möglicherweise nicht einmal der richtige Ausgangspunkt war – durchtesten zu lassen, um zu einer exakten Bestimmung zu gelangen. Doch das Programm wollte nicht laufen, irgendwo war ein Knacks drin. Miri schlug mit der Faust gegen die Seite des Terminals. »Sch-Sch-Scheiße!«
Nikos und Terry hätten sofort gewußt, wo der Hund begraben lag! Oder Tony.
Miri ließ sich auf einen Stuhl fallen; Wogen der Trauer durchfluteten sie. Als das Schlimmste vorüber war, wandte sie sich wieder dem Terminal zu, doch auch mit dem Diagnoseprogramm konnte sie den Fehler nicht finden.
Sie drehte sich zum ComLink und wählte US-Kanal zweiundzwanzig an.
Alles tiefschwarz. Noch ein Defekt? Miri war bereits aufgesprungen, um ihre Faust in die holographische Miniaturbühne zu stoßen und auf ihren Boden zu trommeln, als das Zentrum der Bühne sich plötzlich erhellte. Ein Mann in einem Sessel, zwanzig Zentimeter groß, begann zu sprechen.
»›Glückselig diese frühen Tage / der ersten Engelkinderzeit! / Noch eh’ ich diesen Ort verstand…‹«
Das? Ein Mann in einem Sessel, der irgendwelche Bettlerdichtungen vortrug? Joan brach ein jahrelanges Schweigen, um Miri das hier ans Herz zu legen?
Während der Mann sprach, begann die Schwärze hinter ihm Form anzunehmen. Nein – Formen traten daraus hervor, die sich wiederholten, aber dennoch leichte Unterschiede aufwiesen; es waren merkwürdig faszinierende Formen. In Miris Kopf fügten sich Fäden zu Gebilden, und ihr wurde bewußt, daß auch diese Gebilde – obwohl durchaus alltägliche Gedankengänge darstellend – leichte Unterschiede zu ihren gewohnten Strukturen aufwiesen und daß ihre Formen im großen und ganzen jenen ähnelten, die hinter dem Mann in dem Sessel vorbeiglitten. Vielleicht sollte Diane das sehen; aufbauend auf Tonys Erkenntnissen beschäftigte sie sich mit der Ausarbeitung von Gleichungen, um die Formierung von Gedankenfäden zu beschreiben.
»›Doch durch das ganze fleischlich’ Kleid / sproßt strahlend hell Unendlichkeit‹«, sagte der Mann soeben. Plötzlich bemerkte Miri, daß sein Sessel mit raffinierter Technik ausgestattet war. Der Mann mußte krank oder mißgebildet sein. Jedenfalls nicht normal.
Die Fäden in ihrem Kopf wurden ruhiger; auch die Formen im Hologerät hatten sich verändert. Miri hörte die Worte des Mannes und hörte sie auch nicht; die Worte waren nicht das wirklich Wichtige. Und stimmte das etwa nicht? Worte waren nie wichtig gewesen, nur Fäden, und die Fäden bildeten Formen wie – oder auch nicht wie – diejenigen hinter dem Mann. Und nun war der Mann verschwunden, aber das war in Ordnung, denn sie, Miri, Miranda Serena Sharifi, verschwand auch, schlitterte einen langen steilen Schacht hinab, und mit jedem Meter, den sie zurücklegte, wurde sie kleiner und kleiner, bis sie nicht mehr vorhanden und unsichtbar war, ein transparenter schwereloser Geist, der weder zuckte noch stotterte und in der Ecke eines Raumes hockte, den sie noch nie gesehen hatte.
Unter ihr befanden sich weitere Räume, das wußte sie, denn es war ein tiefes Gebäude – tief, nicht hoch –, und jeder Raum war wie dieser, erfüllt von einem Licht, so spürbar, daß es fast lebendig schien. Eigentlich war es lebendig, denn es wurde plötzlich zu einer Bestie mit fünfzehn Köpfen, und Miri hielt ein Schwert in der Hand. »Nein!« sagte sie laut, »ich bin durchsichtig, ich kann kein Schwert führen!«, aber das war offenbar egal, denn die Bestie stürzte sich brüllend auf sie, und Miri führte einen Hieb gegen einen der Köpfe. Er fiel herab, und erst da sah sie, daß es der Kopf ihrer Großmutter war. Jennifers Kopf lag auf dem Boden, und während Miri ihn noch entsetzt ansah, öffnete sich darunter ein Loch, und der Kopf fiel lächelnd hinein. Miri wußte, er fiel in den nächsttieferen Raum – dieses ganze Gebäude bestand nur aus Räumen unter Räumen, die sich einer nach dem anderen öffneten – doch der Kopf würde nie ganz verschwinden. Nichts verschwand je zur Gänze. Die Bestie griff Miri erneut an, und sie schlug ihr einen zweiten Kopf ab, der mit ebenso heiterer Miene in dem Loch im Boden verschwand wie der erste. Es war der ihres Vaters.
Rasende Wut überkam sie. Immer wieder schwang sie ihr Schwert. Manche der Köpfe, die in den Tiefen des Gebäudes versanken, kannte
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