Bettler 01 - Bettler in Spanien
die Abwehr. Wie alle guten Soldaten war er stets auf einen Angriff vorbereitet, stets darauf gefaßt, seine Vorbereitungen gerechtfertigt zu sehen. Es war gar kein so großer Schritt, fand Jennifer, von der Vorbereitung zum Einsatz – von der Bereitschaft zur Bereitwilligkeit.
Barbara Barcheski, dreiundsechzig, schweigsame, nachdenkliche Leiterin einer Firma für Unternehmensberatung. Lange Zeit war Jennifer sich wegen Barcheski unschlüssig gewesen. Barbara interessierte sich für politische Systeme und war nach Jahrzehnten des Studiums zu dem Schluß gekommen, daß unbeschränkter technischer Fortschritt und Gemeinschaftsloyalität von Grund auf inkompatibel waren, eine Theorie, die sie durch eingehende Studien von Gesellschaften im Wandel – von Venedig in der Renaissance über die industrielle Revolution bis zu den Utopias auf den frühen Orbitalstationen – erhärtete. Jennifer war sich durchaus im klaren, daß die Untersuchung eines Paradoxons beinahe unvermeidlich zu einer Bewertung führen mußte – aber nicht unbedingt zu einer negativen. Sie wartete ab. Und schließlich kam Barbara Barcheski zu einem Abschluß ihrer methodischen Betrachtungen: Wenn eine Gesellschaft wählen muß, dann bot Gemeinschaftsloyalität langfristig bessere Voraussetzungen für das Überleben als technologischer Fortschritt. Barbara Barcheski liebte Sanctuary. Sie unterstützte Jennifer.
Doktor Raymond Toliveri, einundsechzig, der brillante Chefwissenschaftler von Sharifi Labors. Jennifer hatte seine Unterstützung dieses Projekts nie in Frage gestellt: er war sein Schöpfer. Die Schwierigkeit hatte darin bestanden, Toliveri, dessen lückenloser Arbeitsplan ihn zu einem wahren Einsiedler machte, in den Hohen Rat wählen zu lassen. Es hatte lange gedauert, bis Jennifer das gelungen war.
Dazu Will Sandaleros, Najla und ihr Ehemann Lars Johnson und Hermione Sharifi. Alle standen angespannt und stolz vor ihr; sie wußten um die Konsequenzen dessen, was sie vorhatten, und akzeptierten diese Konsequenzen rückhaltlos, ohne Schwäche, ohne Ausflüchte.
Nur Ricky lehnte gebeugt an einer Wand des Saales, die Augen gesenkt, die Arme über der Brust verschränkt. Hermione vermied den Anblick ihres Mannes; sie hatten wohl einen Streit wegen dieser Angelegenheit gehabt, vermutete Jennifer. Und es war Hermione – Jennifers Schwiegertochter, nicht ihr leiblicher Sohn –, die sich der Sache der Gerechtigkeit angeschlossen hatte. Ein komplexes Gefühl erwachte in Jennifer – Zorn und Schmerz und quälendes mütterliches Schuldbewußtsein –, aber sie schob es weit von sich. Es war nicht mehr die Zeit für Rickys Versäumnisse; dies war Sanctuarys Zeit.
»Also los!« sagte Will und aktivierte das Kommunikationsnetz, das ganz Sanctuary überzog: mit ComLink-Bildschirmen und Holobühnen im Innern der Gebäude und mit Lautsprechern im Freien. Jennifer glättete die Falten ihrer weißen Abajeh und trat einen Schritt vor.
»Bürger von Sanctuary! Hier spricht Jennifer Sharifi aus dem Tagungshaus, wo die Ratsversammlung zu einer dringenden Krisensitzung zusammengetreten ist. Die Vereinigten Staaten haben auf unsere Unabhängigkeitserklärung reagiert wie erwartet, nämlich mit der Ankündigung einer Schläferinvasion für morgen. Das dürfen wir nicht zulassen! Wenn wir dieser Delegation gestatten, auf Sanctuary anzudocken, signalisieren wir eine Bereitschaft zu Verhandlungen, wo es keine Verhandlungen geben kann, signalisieren wir Unentschlossenheit, wo wir fest entschlossen sind, signalisieren wir die Denkbarkeit einer wirtschaftlichen und gesetzlichen Bestrafung, wo wir moralisch und evolutionär im Recht sind. Diese Delegation darf auf Sanctuary nicht andocken.
Aber der Versuch, den Bettlern gewaltsam Einhalt zu gebieten, könnte sie gefährden oder ihnen Schaden zufügen. Auch das würde den Vereinigten Staaten ein falsches Signal geben, denn Schlaflose greifen nicht an, wenn nicht zuvor sie selbst angegriffen wurden. Wir akzeptieren die Notwendigkeit der Selbstverteidigung, aber wir wollen keinen Krieg. Wir wollen in Frieden gelassen werden, um unser Leben auf unsere Weise zu führen, und durch unsere Leistungen nach Freiheit und Glück zu streben; das alles war uns bisher verwehrt.
Nein, um den Bettlern Einhalt zu gebieten, können wir nicht mehr tun, als ihnen eine Waffe vor Augen zu führen, die wir nicht zum Einsatz bringen wollen, wenn wir nicht zu unserer eigenen Verteidigung dazu gezwungen werden. Zu diesem Zweck wird die
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