Bettler 01 - Bettler in Spanien
ohne Jahreszeiten hatte Sanctuary sich stets an die östliche Standardzeit gehalten. Dieser Umstand, der Jennifer so vertraut war wie das Pulsieren ihres Blutes in den Adern, erschien ihr mit einemmal als grotesk. Sanctuary, das Refugium und Heimatland der Schlaflosen, der Pionier auf der nächsten Evolutionsstufe der Menschheit, hatte sich all diese Jahre mit dem elementarsten aller vom Menschen geschaffenen Zwänge an die ausgelaugten Vereinigten Staaten gekettet: mit der Zeit. Und nun, um sechs Uhr abends – östliche Standardzeit – stand Jennifer am Kopfende des Verhandlungstisches im Tagungshaus und beschloß, diese Fesseln abzustreifen, sobald diese Krise vorbei war. Sanctuary würde sein eigenes System zur Zeitmessung entwickeln, das frei sein mußte von der erdgebundenen Vorstellung von Tag und Nacht, frei von dem erniedrigenden, hypnotisierenden Rhythmus, der Schläfer in seinem Bann hielt. Sanctuary würde die Zeit bezwingen.
»Also!« rief Will Sandaleros. »Los!«
Kein Ratsmitglied war sitzengeblieben; sie standen alle gespannt da, die Handflächen auf die Metallplatte des Tisches gestützt oder die geballten Fäuste an die Schenkel gepreßt, und starrten auf die Sichtschirme an der Stirnwand des Raumes. Jennifer ließ den Blick von einem Gesicht zum anderen wandern: aufgeregt, entschlossen oder gequält. Doch selbst aus den wenigen gequälten Gesichtern sprach Standhaftigkeit; man akzeptierte die Notwendigkeit einer schmerzhaften Operation. Jennifer hatte das Lotteriesystem durch allgemeine Wahlen ersetzt – diese Umstellung allein dauerte ein Jahrzehnt. Dann hatte sie lange Zeit an dieser ganz besonderen Zusammensetzung der Ratsversammlung gearbeitet, indem sie Leute dazu überredete, ihre Kandidatur aufzuschieben, manchmal um Jahrzehnte. Sie hatte hier unauffällig gefördert, dort ebenso unauffällig Hindernisse in den Weg gelegt. Sie hatte argumentiert, gehandelt, vorgefühlt, abgewartet und Aufschübe und Unentschlossenheit in Kauf genommen. Doch nun verfügte Jennifer über eine Ratsversammlung, auf die sie – mit Ausnahme eines Mitglieds – zählen konnte in diesem entscheidenden Moment für die Schlaflosen überall und für alle Zeit – einer Zeit von jener Sorte, wie sie diesem schäbigen Land geläufig war, das aufgehört hatte, für die Evolution der Menschheit von Belang zu sein.
Robert Dey, fünfundsiebzig Jahr alt, der respektierte Patriarch einer großen und reichen Familie von Sanctuary, der seit Jahrzehnten nicht müde wurde, von all den Schlaflosen zu berichten, die in den Vereinigten Staaten seiner Kindheit gehaßt und verhöhnt wurden.
Caroline Renleigh, achtundzwanzig, eine hochintelligente Kommunikationstechnikerin mit einer fanatischen Überzeugung von der darwinischen Überlegenheit der Schlaflosen.
Cassie Blumenthal, seit den frühesten Tagen von Sanctuary an Jennifers Seite und unschuldig Beteiligte an den Vorfällen, die zu Jennifers Prozeß führten – Vorfälle, die man auf Sanctuary als graue Vergangenheit betrachtete, die aber in Cassies verläßlicher Erinnerung immer noch sehr real waren.
Paul Aleone, einundvierzig, Mathematiker und Volkswirtschaftler, der nicht nur den Zusammenbruch der Y-energieabhängigen amerikanischen Wirtschaft als Folge des Erlöschens der internationalen Patentrechte vorausgesehen hatte, sondern dem auch die Entwicklung eines Computerprogramms zu verdanken war, das exakt das Resultat aller Torheiten und Taschenspielertricks der letzten zehn Jahre berechnete, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Vereinigten Staaten immer noch bestritten, daß ihre Seifenblase aus illusorischer Hochkonjunktur längst geplatzt war. Aleone hatte auch die wirtschaftliche Zukunft Sanctuarys als souveräner Staat veranschlagt, der mit anderen souveränen Staaten Handel trieb, die besonnener waren als die USA.
John Wong, fünfundvierzig, ein Rechtsanwalt, der auch als Berufungsrichter am selten benutzten Gerichtshof von Sanctuary wirkte und der stolz war auf die Tatsache, daß die Schlaflosen das Gerichtssystem mit Ausnahme routinemäßiger Interpretationsfragen bei Vertragsklauseln so selten in Anspruch nahmen. Auf Sanctuary gab es wenig Gewalttaten, wenig Vandalismus, kaum Diebstähle. Aber Wong, ein geschichtsbewußter Mann, war sich der Macht der Justizgewalt bei gesetzestreuen Menschen zu Zeiten umstrittener Veränderungen bewußt, und er glaubte an die Notwendigkeit von Veränderungen.
Charles Stauffer, dreiundfünfzig, oberster Verantwortlicher für
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