Bettler 01 - Bettler in Spanien
zweihundert Bewerbern aus der ganzen Welt schaffte eine Aufnahme an die Universität, und selbst die Tochter des englischen Premierministers war bei den Prüfungen nach dem ersten Studienjahr durchgefallen und heimgeschickt worden.
Leisha bewohnte ein Einzelzimmer in einem neuen Studentenheim; für das Heim hatte sie sich deshalb entschieden, weil sie in Chicago so viele Jahre abseits ihrer Altersgenossen gelebt hatte und hungrig war nach menschlicher Gesellschaft; und für ein Einzelzimmer, um niemanden zu stören, wenn sie nachts arbeitete. Am zweiten Tag im Studentenheim kam ein Junge vom anderen Ende des Flures in ihr Zimmer geschlendert und schob seinen Hintern auf die Kante von Leishas Schreibtisch.
»Du bist Leisha Camden.«
»Ja.«
»Sechzehn Jahre alt.«
»Fast siebzehn.«
»Und wirst uns alle ausstechen, hab ich gehört, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.«
Leishas Lächeln gefror. Der Junge starrte sie unter seinen zusammengezogenen, flaumfeinen Brauen hindurch an. Er lächelte, aber seine Augen waren hart. Doch von Richard und Tony und den anderen hatte Leisha gelernt zu erkennen, wann Wut sich als Verachtung tarnte.
»Allerdings«, erwiderte Leisha kühl. »Das werde ich.«
»Bist du sicher? Du, mit deiner niedlichen Kleinmädchenfrisur und deinem Kleinmädchenmutantenhirn?«
»Ach, laß sie doch in Frieden, Hannaway«, sagte eine andere Stimme. Ein großer blonder Junge, der so mager war, daß seine Rippen hervorstanden wie die Wellen auf Sanddünen, stand nur mit Jeans bekleidet auf nackten Füßen in der Tür und trocknete sich das nasse Haar. »Du wirst es wohl auch nie müde, allen zu beweisen, was für ein Arschloch du bist.«
»Nein. Du?« sagte Hannaway. Er hob seinen Hintern vom Schreibtisch und stapfte Richtung Tür. Der Blonde trat einen Schritt zur Seite, um ihn durchzulassen, aber Leisha nahm rasch den freigewordenen Platz ein.
»Der Grund, weshalb ich besser abschneiden werde als du«, erklärte sie gelassen, »liegt darin, daß ich über gewisse Vorteile verfüge und du nicht. Schlaflosigkeit ist einer davon. Und dann, wenn ich dich ausgestochen habe, werde ich dir gern beim Lernen für deine Prüfungen helfen, damit du sie auch schaffst.«
Der Blonde unterbrach das Trocknen seiner Ohren und lachte. Aber Hannaway stand ganz still da, einen Ausdruck in den Augen, der Leisha zurückzucken ließ. Er drängte sich an ihr vorbei und stürzte aus dem Zimmer.
»Gratuliere, Camden«, sagte der Blonde. »Das hat gesessen.«
»Aber ich habe das ernst gemeint«, entgegnete Leisha. »Ich würde ihm wirklich beim Lernen helfen.«
Der Blonde ließ sein Handtuch sinken und sah sie an. »Tatsache, nicht wahr? Du hast es wirklich ernst gemeint.«
»Natürlich! Warum zweifelt bloß jeder daran?«
»Also, ich nicht«, sagte der Junge. »Mir kannst du gern helfen, sollte ich in der Patsche sitzen.« Er grinste. »Wird aber nicht der Fall sein.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich alles genauso gut kann wie du, Leisha Camden.«
Sie musterte ihn eingehend. »Du bist keiner von uns. Kein Schlafloser.«
»Ist auch nicht notwendig. Ich weiß, was ich kann. Was ich tun, werden, schaffen und vermarkten kann.«
»Du bist Yagaiist!« rief sie hocherfreut aus.
»Ganz recht.« Er streckte ihr die Hand hin. »Stewart Sutter. Wie wäre es mit einem Fishburger unten im Park?«
»Gern«, sagte Leisha.
Sie gingen gemeinsam spazieren und unterhielten sich angeregt. Wenn die Leute Leisha anstarrten, bemühte sie sich, keine Notiz davon zu nehmen. Sie war hier. In Harvard. Sie hatte ausreichend Zeit vor sich, zu lernen und mit Menschen wie Stewart Sutter zusammenzusein, der sie akzeptierte und eine Herausforderung für sie darstellte.
Solange er wach war.
Das Studium faszinierte sie und nahm sie völlig in Anspruch. Roger Camden kam zu Besuch, spazierte mit ihr über das Universitätsgelände, hörte ihr zu, lächelte. Er fand sich hier besser zurecht, als Leisha vermutet hätte; er kannte Stewart Sutters Vater und Kate Addams’ Großvater. Sie redeten über Harvard, die Geschäfte, Harvard, die Yagai-Wirtschaftsakademie und wiederum Harvard. »Wie geht es Alice?« fragte Leisha einmal, aber Camden sagte, er wüßte es nicht. Sie war von daheim weggezogen und wolle ihn nicht sehen; über seinen Anwalt würde er ihr finanzielle Hilfe zukommen lassen. Während er das sagte, blieb seine Miene unverändert ruhig und gleichmütig.
Mit Stewart, der so wie sie Jura als Hauptfach hatte, aber
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