Bettler 01 - Bettler in Spanien
das?« fragte Leisha. »Wir bekamen doch beide so ein Ding…«
»Ich hab meines entfernen lassen«, sagte Alice.
»Du wolltest schwanger werden?«
»Und wie blitzartig ich es wurde! Und es gibt nichts, was Papa dagegen tun kann. Außer, daß er mir sämtliche Kreditkarten abnimmt. Aber ich glaube nicht, daß er mir das antun wird.« Sie lachte schrill auf. »Nicht einmal mir.«
»Aber, Alice… warum? Doch nicht nur, um Papa zu ärgern?«
»Nein«, sagte Alice. »Obwohl du das durchaus für denkbar halten würdest, nicht wahr? Nein, ich wollte einfach etwas zum Liebhaben. Etwas, das mir ganz allein gehört. Und das nichts mit diesem Haus zu tun hat.«
Leisha dachte daran, wie sie und Alice durch die hellen Sonnenstrahlen im Gewächshaus gerannt waren, damals, vor vielen Jahren. »Es war doch nicht so schlimm, in diesem Haus aufzuwachsen, oder?«
»Leisha, du bist dumm. Ich weiß nicht, wie jemand, der so klug ist wie du, so dumm sein kann! Verschwinde aus meinem Zimmer! Raus hier!«
»Aber, Alice… ein Baby …!«
»Hau ab!« kreischte Alice. »Geh nach Harvard! Werd erfolgreich und berühmt! Bloß hau endlich ab!«
Leisha fuhr hoch. »Aber gern. Du bist unvernünftig, Alice. Du denkst nicht voraus, du planst nicht… ein Kind!« Doch Ärger war ein Zustand, den sie nie lange aufrechterhalten konnte; er versickerte ganz einfach und ließ eine Leere zurück.
Plötzlich breitete Alice die Arme aus, und Leisha rannte hin und schmiegte sich an sie.
»Du bist das Kind«, murmelte Alice erstaunt. »Ehrlich. Du bist so… Ich weiß nicht. Jedenfalls bist du ein Kind.«
Leisha sagte nichts darauf. Alices Arme fühlten sich so warm an, so stark – wie zwei Kinder, die durch die Sonnenstrahlen im Gewächshaus flitzten. »Ich werde dir helfen, Alice. Wenn Papa es nicht tut.«
Alice schob sie schroff von sich. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Leisha stand da, strich sich über die nutzlos gewordenen Arme und rieb mit den Fingerspitzen an den Ellbogen. Alice trat gegen den leeren Koffer, der mit offenem Deckel darauf wartete, für das College gepackt zu werden, und setzte dazu ein abruptes Lächeln auf, da Leisha unwillkürlich den Blick abwandte; sie machte sich auf weitere Kränkungen gefaßt, aber alles, was Alice sagte, war ein sehr leises: »Hoffentlich gefällt’s dir in Harvard.«
5
Es gefiel ihr sehr.
Schon beim ersten Blick auf die Massachusetts Hall, die um ein halbes Jahrhundert älter war als die Vereinigten Staaten, verspürte Leisha etwas, das in Chicago gefehlt hatte: Alter. Verwurzelung. Tradition. Sie berührte die Backsteine der Widener-Bibliothek und die Glaskästen im Peabody-Museum, als wären sie der Heilige Gral. Mythen oder Dramen hatten Leisha nie besonders berührt; Julias Seelenqualen erschienen ihr gekünstelt, und jene von Willy Loman einfach nur überflüssig. Nur König Artus, der unermüdliche Kämpfer für eine bessere Gesellschaftsordnung, hatte ihr Interesse wecken können. Doch nun, als sie unter den imposanten, herbstlich gefärbten Bäumen dahinwanderte, bekam sie einen flüchtigen Eindruck dieser Kraft, die über Generationen hinwegreichen konnte, indem sie Reichtümer dazu bestimmte, Wissen und große Leistungen zu ermöglichen, welche die Wohltäter nie zu Gesicht bekommen würden – Früchte individuellen Strebens, die künftige Jahrhunderte prägen und sie umfassen sollten. Leisha blieb stehen und blickte durch die Blätter zum Himmel und auf die Gebäude, die so tief in ihren ehrwürdigen Zielsetzungen ankerten. In solchen Momenten dachte sie an Camden, der sich ein ganzes Genforschungszentrum gefügig gemacht hatte, um sie, Leisha, nach seinem Willen erschaffen zu lassen.
Doch kaum ein Monat später war sie über all diese philosophischen Tiefgründigkeiten hinaus.
Die Belastung war ungeheuer, selbst für sie. An der Sauley-Schule hatte man Leisha darin bestärkt, sich ihre Fortschritte im selbstgewählten Tempo bei selbstgewählten Themen anzueignen; Harvard hingegen wußte genau, was es von ihr wollte – und wie schnell. In den letzten zwanzig Jahren war Harvard unter der akademischen Leitung eines Mannes, der in seiner Jugend mit Entsetzen die wachsende wirtschaftliche Überlegenheit Japans verfolgt hatte, zu einem umstrittenen Vorkämpfer für eine Rückkehr zum schonungslosen Erlernen von trockenen Fakten, von Theorien und ihren praktischen Anwendungen, von logischem Denken und rationalem Einsatz des Intellekts geworden. Nur einer von
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