Bettler 01 - Bettler in Spanien
zu lösen.
Vor zwanzig Jahren hatte es einen Augenblick lang so ausgesehen, als könnte sich das ändern zwischen ihnen beiden. Aber jetzt…
Zweiundzwanzigtausend Schlaflose auf der Erde, fünfundneunzig Prozent davon in den Vereinigten Staaten. Achtzig Prozent von diesen in Sanctuary. Und da nun nahezu alle Schlaflosenkinder auf natürlichem Weg gezeugt und nicht in vitro geschaffen wurden, kamen zur Zeit die meisten Schlaflosen innerhalb von Sanctuary zur Welt. Im ganzen Land erkauften zukünftige Eltern für ihren Nachwuchs zwar weiterhin andere genetische Veränderungen: einen höheren IQ, schärfere Augen, ein verbessertes Immunsystem, hohe Wangenknochen – einfach alles, wie es Leisha schien, was sich in legalem Rahmen bewegte, egal, wie banal; jedoch nicht Schlaflosigkeit. Genetische Veränderungen waren kostspielig; warum sollte man für das Kind, das man liebt, ein Leben voll Fanatismus, Vorurteil und körperlicher Gefahr erwerben? Da war es schon besser, eine gemäßigte Genmodifikation zu wählen. Schöne oder kluge Kinder mochten zwar normalen Neid auf sich ziehen, doch üblicherweise keinen wirklichen Haß. Man betrachtete sie nicht als andere Rasse – als eine verschworene Gemeinschaft, die ohne Unterlaß auf mehr Macht aus war, die ohne Unterlaß hinter den Kulissen die Fäden zog und die ohne Unterlaß gefürchtet und verhöhnt wurde. Schlaflose, so hatte Leisha in einem Artikel für ein großes Magazin geschrieben, waren für das einundzwanzigste Jahrhundert das, was Juden für das vierzehnte gewesen waren.
Zwanzig Jahre juristischer Kampf, um diese Auffassung zu ändern, und nichts hatte sich geändert.
»Ich bin es überdrüssig«, sagte sie versuchsweise mit lauter Stimme. Der Pilot drehte sich nicht um; er machte sich nichts aus Konversation. Nach wie vor glitten die hügeligen Vorläufer der Berge sechstausend Meter tiefer unter dem Flugzeug hinweg.
Leisha klappte ihren Laptop auf. Überdrüssigsein brachte nichts. Nichts im Hinblick auf die bedrückende Kluft zwischen ihr und Alice, nichts im Hinblick auf Calvin Hawke in der Auseinandersetzung, die soeben hinter ihr lag, und nichts im Hinblick auf Sanctuary bei der Auseinandersetzung, die vor ihr lag. All das blieb unverändert. Statt dessen konnte sie eine ganze Menge Arbeit erledigen. Drei Stunden bis in den nördlichen Teil des Staates New York, zwei zurück nach Chicago – genug, um den Schriftsatz für Calder gegen Hansen-Metallurgie zu verfassen. Um sechzehn Uhr hatte sie in Chicago einen Termin mit einem Klienten, dann, um siebzehn Uhr dreißig, die Protokollierung einer beeideten Aussage und einen weiteren Kliententermin um zwanzig Uhr. Blieb der Rest der Nacht für die Vorbereitung auf den morgigen Prozeß. Es würde sich knapp ausgehen.
Die Juristerei war das einzige, dessen sie nie überdrüssig wurde. Die Rechtsprechung war das einzige, woran sie noch glaubte, auch nach zwanzig Jahren Praxis und mit dem ganzen Mist, der sich dabei unvermeidlicherweise anhäufte. Eine Gesellschaft mit einem funktionierenden, annehmbar – sagen wir, zu achtzig Prozent – unbestechlichen Rechtssystem war eine Gesellschaft, die den Glauben an sich selbst noch nicht verloren hatte.
Wieder ein wenig heiterer geworden verbiß sich Leisha in eine knifflige Frage einer prima facie- Annahme. Doch das Buch lag immer noch auf dem Sitz neben ihr, zusammen mit Alices Frage und der unausgesprochenen Antwort darauf.
Im April 1864 hatte Lincoln einen Brief an A. G. Hodges in Kentucky geschrieben. Die Nordstaaten waren aufgebracht über das Massaker an schwarzen Soldaten in Fort Pillow, die Staatskasse war fast leer, der Krieg kostete die Union zwei Millionen Dollar täglich. Jeden Tag wurde Lincoln in der Presse verunglimpft; jede Woche hatte er einen Ringkampf mit dem Kongress auszutragen. Im Monat darauf würde Grant bei Cold Harbor zehntausend Mann verlieren und noch mehr bei Spotsylvania Courthouse. Lincoln schrieb also an Hodges: »Ich behaupte nicht, Herr der Geschehnisse gewesen zu sein, sondern gebe offen zu, daß die Geschehnisse Herr über mich waren.«
Leisha schob ihr Buch unter den Sitz, beugte sich über den Laptop und versenkte sich in das Gesetz.
Jennifer Sharifi hob die Stirn vom Boden, stand anmutig auf und rollte den Gebetsteppich zusammen. Das harte Berggras war ein wenig naß, und feuchte, geknickte Halme klebten an der Unterseite des Teppichs. Sie hielt ihn so, daß er die weißen Falten ihrer Abajeh nicht berührte, und
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