Bettler 01 - Bettler in Spanien
»Gut«, antwortete er nur und fügte nach kurzem Innehalten hinzu: »Fährst du von hier aus direkt nach Sanctuary?«
Leisha, die soeben im Begriff war, sich in den Wagen zu setzen, blickte auf. »Woran erkennst du das?«
»Du hast immer, wenn du vorhast hinzugehen oder von dort kommst, den gleichen Ausdruck im Gesicht.«
Sie senkte den Kopf; er hätte Sanctuary nicht erwähnen sollen. »Sag Hawke, ich werde wegen der Wandkamera kein rechtliches Theater machen. Und du brauchst auch kein schlechtes Gewissen zu haben, weil du mich nicht vorgewarnt hast. Du hast ohnedies schon genug gegensätzliche Standpunkte zu glätten, Jordy. Aber, weißt du, ich habe langsam die Nase voll von diesen monumentalen Persönlichkeiten wie deinem Mister Hawke, die anscheinend nur aus Charisma und enorm übersteigertem Ego bestehen und einem ihre leidenschaftlichen Überzeugungen wie eine Faust ins Gesicht schlagen. Es zermürbt einen mit der Zeit.« Sie schwang ihre langen Beine in den Wagen.
Jordan lachte, worauf Leisha zu ihm aufblickte; in ihren grünen Augen stand eine leise Frage, aber er schüttelte nur den Kopf, küßte sie und schloß die Tür des Wagens. Als er wegfuhr, richtete er sich wieder auf; er lachte nicht mehr. Charismen. Übersteigerte Egos. Monumentale Persönlichkeiten.
Wie konnte es ihr nur in all diesen Jahren entgangen sein, daß sie auch dazu gehörte?
Leisha lehnte den Kopf gegen den lederbespannten Sitz des Firmenflugzeuges der Baker Enterprises. Sie war der einzige Passagier. Unter ihr ging das ebene Land am Mississippi in die Vorläufer der Appalachian Mountains über. Leishas Finger streiften das Buch auf dem Nebensitz, und sie nahm es zur Hand. Es lenkte ihre Gedanken ab von Calvin Hawke.
Sie hatten den Umschlag viel zu grell und aufdringlich gemacht. Ein bartloser Abraham Lincoln stand in schwarzem Gehrock und Zylinder vor dem Hintergrund einer brennenden Stadt – Atlanta? Richmond? – und zog eine fürchterliche Grimasse. Karminrote und tieforange Flammen loderten in einen purpurnen Himmel. Karminrot und orange und fuchsienrosa! Online würden die Farben noch schreiender wirken. Im dreidimensionalen Hologramm würden sie praktisch fluoreszieren.
Leisha seufzte. Lincoln hatte in seinem ganzen Leben nie vor einer brennenden Stadt gestanden. Zu der Zeit, als die in dem Buch geschilderten Ereignisse stattfanden, hatte er einen Bart getragen. Und das Buch selbst war eine sorgfältige wissenschaftliche Studie der Reden Lincolns im Licht des Verfassungsrechtes, nicht im Licht des Schlachtfeldes. Nichts darin schnitt Grimassen. Nichts darin brannte.
Sie ließ den Finger über den erhaben geprägten Namen auf dem Umschlag gleiten: Elizabeth Kaminsky.
»Warum das?« hatte Alice in ihrer direkten Art gefragt.
»Ist das nicht naheliegend?« hatte Leisha geantwortet. »Gegenwärtig wird allen meinen Rechtsfällen viel zuviel öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Ich möchte, daß dem Buch jene wissenschaftliche Beachtung zuteil wird, die es verdient, und nicht…«
»Das ist mir klar!« unterbrach Alice sie scharf. »Aber warum ausgerechnet dieses Pseudonym?« Leisha hatte keine Antwort darauf gehabt. Eine Woche später fiel ihr eine ein, aber zu diesem Zeitpunkt war der steife kleine Besuch bereits vorüber, und Leisha befand sich nicht mehr in Kalifornien, um Alice die Erklärung zu geben, die sie verlangt hatte. Leisha war nahe dran, sie anzurufen, aber es war vier Uhr früh in Chicago, das machte zwei Uhr morgens in Morro Bay, und Alice und Beck würden zweifellos schlafen. Außerdem riefen sie und Alice einander höchst selten an.
Wegen etwas, das Lincoln im Jahr 1864 sagte, Alice. In Verbindung mit den beiden Tatsachen, daß ich jetzt dreiundvierzig Jahre alt bin, genauso alt wie unser Vater, als wir geboren wurden, und daß niemand, nicht einmal du, der Meinung ist, daß ich des ganzen überdrüssig werde.
Doch in Wahrheit hätte sie Alice das so nicht gesagt, weder in Chicago noch in Kalifornien. Irgendwie klang alles, was sie zu Alice sagte, leicht schwülstig. Und das, was Alice zu ihr sagte – wie dieser mystische Unsinn der Studiengruppe für Zwillingsphänomene –, erschien Leisha stets durchlöchert, was Logik und Nachweisbarkeit betraf. Sie waren wie zwei Personen, die versuchten, sich in einer Sprache zu verständigen, die beiden fremd war; so mußten sie sich damit begnügen, zu nicken und zu lächeln – und guten Willen zu zeigen, der nicht ganz ausreichte, um die Spannungen
Weitere Kostenlose Bücher