Bettler 01 - Bettler in Spanien
die Stirn auf die Knie gesenkt und die Hand in die harten Grashalme verkrallt. Stewart hatte sie in die Arme genommen und in ihr Ohr gemurmelt: »Er ist glücklich, Leisha. Ehrlich. Er bettelt für einen guten Zweck, er treibt viel Geld auf für die Leiden der Welt. Er tut das, was er tun möchte, und er macht es gut. Die Verstümmelungen stören ihn nicht. Und außerdem geht er ohnedies schon weg. Er geht schon. Schau. Er ist schon weg.«
12
Um acht Uhr abends war der Rummel auf dem Deich in voller Fahrt. Unter den Schaumsteinmauern glitt der Mississippi dunkel und lautlos vorbei. Zur Sicherheit hatte man ein Y-Feld errichtet – unsichtbare Wände, die eine Kuppel in der Größe eines Fußballfeldes umschlossen. Die Kuppel erstreckte sich über ein Stück des Flusses, über hundert Laufmeter des breiten Deiches und einen Halbkreis aus saurem Grasland und dunklem Gesträuch zwischen der Rollerfabrik und dem Wasser. Aus dem dunkelsten Gesträuch vernahm man gelegentliches Kichern, begleitet von reichlich Knacken und Rascheln.
Am südlichen Ende des breiten Deiches stauten sich die Leute vor den Erfrischungsbuden, den Holospielen und vor den Terminals, wo Wir schlafen! Zuschüsse zu den Einsätzen bei den großen Lotterien der Fernsehstationen gewährte. Am nördlichen Ende plärrte eine lärmende Band, deren Name Jordan entfallen war, Tanzmusik in die Nacht. Alle dreißig Sekunden blitzte ein dreidimensionales, mannshohes ferngesteuertes Hologramm des Wir schlafen! -Logos an einer anderen Stelle in der Luft auf: zehn Meter über dem Boden, eine Handbreit über dem Wasser, inmitten der wilden Tänzer. Auf der anderen Seite des Flusses blinzelte, etwas verschwommen durch das Vorhandensein der Y-Kuppel, schamhaft die Leuchtreklame von Samsung-Chrysler herüber.
»Der grundlegende Fehler Ihrer Tante Leisha besteht darin, daß sie ins achtzehnte Jahrhundert gehört und nicht ins einundzwanzigste«, stellte Hawke fest. »Nehmen Sie sich doch noch Eis, Jordy.«
»Nein, danke«, sagte Jordan. Er wollte kein Eis, und noch viel weniger wollte er mit Hawke über seine Tante Leisha sprechen. Nicht schon wieder. Er versuchte, ihre Schritte Richtung Norden, zum oberen Ende des Rummelplatzes zu lenken, wo Hawkes Stimme in der Tanzmusik untergehen würde.
Hawke ließ sich jedoch nicht lenken und ging auch nicht unter. »Das Eis ist ein neues Biopatent der GenFrischFarmen. Unglaublich in Erdbeer. Zwei Tüten, bitte.«
»Ich möchte eigentlich kein…«
»Was sagen Sie dazu, Jordy? Kaum zu glauben, daß sie dort mit Sojabohnengenen anfingen und jetzt, im letzten Vierteljahr, eine Gewinnspanne von siebzehn Prozent herausschlagen konnten.«
»Erstaunlich«, sagte Jordan, leicht sauer. Er hoffte, das Eis würde eher mittelmäßig schmecken, aber es war das beste, das er je gegessen hatte.
Hawke lachte, während er ihn über die Waffeltüte mit Erdbeereis hinweg beobachtete. Jordan nahm an, daß gleich am nächsten Morgen ein Wir schlafen!- Gewerkschafter an GenFrischFarmen herantreten würde – falls über die Sache nicht ohnedies bereits verhandelt wurde. Der Rummel auf dem Deich fand zu Ehren von Firmen wie GenFrisch statt, die neue Elemente in der Wir schlafen! -Revolution bildeten (oder bilden würden). Seit der Sharifi-Fall in den Medien Schlagzeilen machte, waren die durchschnittlichen Gewinnspannen um erstaunliche vierundsiebzig Prozent gestiegen. Von Timothy Herlingers Tod zum Kauf von Wir schlafen! -Produkten war es nur ein – in Jordans Augen hysterischer – Schritt, der Millionen neuer Konsumenten an Hawkes effektvolle Phrasen herangeführt hatte. »Wußte ich’s doch!« schrien Wir Schläfer! voll Triumph, Angst, Wut und Habgier. »Die Schlaflosen haben Schiß vor uns! Sie schwitzen so sehr, daß sie uns durch Morde kleinkriegen wollen!«
In der Rollerfabrik in Mississippi, wo Hawke nach wie vor auf eine künstlich rustikale Art, die Jordan irritierte, das Oberkommando führte, hatte sich die Produktion verdoppelt und blieb dann auf dem angehobenen Niveau. Hawke hatte eine Schautafel mit der Produktionskurve an die Fabriksmauer gehängt, dieses breite, geheimnisvolle Lächeln aufgesetzt und den Rummel zur Feier des Profits auf dem Deich angekündigt, »genau dort, wo zur Zeit meines Ururgroßvaters die damaligen Politiker aus der Gegend ihre Wähler mit Volksfesten und gegrilltem Wels ködern wollten«.
Jordan, der Kalifornier, der keine Ahnung hatte, wer sein Ururgroßvater gewesen war, hatte
Weitere Kostenlose Bücher