Bettler 02 - Bettler und Sucher
Ihre Augen richteten sich unverwandt auf mich, und ihr Mund wurde weich. »Du bist der Lichte Träumer, Drew! Keiner von uns kann das, was du tust. Und wenn wir dich zu sehr… lenken, dann nur deshalb, weil es das Projekt so verlangt. Die ganze Sache wäre nicht möglich ohne dich.«
Ich lächelte. Sie sah so betriebsam aus, so erfüllt von Leidenschaft für ihre Arbeit. So entschlossen. Unbeirrbar, hatte Leisha ihren Vater genannt. Bereit, jede Regel zu brechen, die ihm im Weg stand.
Miri sagte: »Glaubst du nicht, daß wir wissen, wie wichtig du bist, Drew? Drew?«
»O doch, ich weiß es, Miri.«
Ihr Gesicht barst zu tausend Lichtsplittern, die mir wie Schwerter ins Herz fuhren. »Dann wirst du das neue Stück komponieren?«
»Risikobereitschaft«, sagte ich. »Dargestellt als wünschenswert, attraktiv, wichtig. In Ordnung. Sonntag in einer Woche.«
»Es ist wirklich notwendig, Drew. Wir sind immer noch Monate von einem Labor-Prototyp entfernt, aber das Land…« Sie griff nach einem weiteren Stapel von Ausdrucken. »Schau her. Anstieg der Betriebsstörungen bei der Gravbahn um acht Prozent im letzten Monat. Meldungen über Ausfälle bei den Kommunikationsnetzen – wiederum ein Anstieg, hier um drei Prozent. Pleiten: ein Anstieg von fünf Prozent. Das Funktionieren der Nahrungsversorgung – und da wird es kritisch – um sechzehn Prozent weniger reibungslos. Die Industrieindikatoren fallen im gleichen erschreckenden Tempo. Das Vertrauen der Wählerschaft ist im Keller. Und die Duragem-Situation…« Mit einemmal war die langsame, einen Vierteltakt hinterherhinkende Sprechweise dahin. »Schau dir diese Graphiken an, Drew! Wir können nicht einmal den Ursprung der Duragem-Pannen lokalisieren – es gibt kein Epizentrum! Und wenn man die Daten in die Lawson-Reduktionsformeln eingibt…«
»Ja«, sagte ich, um den Lawson-Reduktionsformeln zu entgehen, »ich glaube dir. Es ist schlimm da draußen und es wird immer schlimmer.«
»Nicht nur schlimmer – apokalyptisch!«
Mein Inneres erfüllte sich mit blutrotem Feuer und dem Donner von Geschützen; umgeben von alldem war eine gläserne Rose hinter einem undurchdringlichen Schild. Miri ist auf Sanctuary aufgewachsen. Die Bedürfnisse und Annehmlichkeiten des Lebens waren gegebene Dinge. Immer und für alle, ohne Frage, ohne Einschränkung, ohne darüber einen Gedanken zu verlieren. Im Gegensatz zu mir sah Miranda nie ein Baby an Vernachlässigung sterben, nie einen betrunkenen, nicht mehr aus noch ein wissenden Mann seine Frau verprügeln, nie eine Familie ausschließlich von ungewürztem SojSynth leben und nie eine Toilette, die tagelang nicht funktionierte. Sie wußte nicht, daß man all diese Dinge überleben konnte. Wie wollte sie wissen, was eine Apokalypse ist?
Aber so etwas sage ich nicht laut.
Terry Mwakambe sprang vom Fensterbrett. Seit wir den Raum betreten hatten, hatte er kein einziges Wort gesagt. Seine Gedankenfäden bestehen fast nur aus Gleichungen, sagt Miri. Aber nun war es soweit: »Abendessen?« fragte er.
Ich lachte. Ich konnte es einfach nicht unterdrücken. Abendessen! Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Terry Mwakambe und Drew Arlen: Essen! Gewiß mußten auch Terry und Miri das Komische daran sehen – hier in diesem Raum, in diesem Gebäude, mitten in diesem Projekt… Abendessen!
Keiner von beiden lachte. Ich verspürte die Formen ihrer Befremdung. Es war ein Regen aus winzigen Tropfen, die wie Tränen auf alles fielen, auf die Apokalypse vor meinem geistigen Auge und auf mich selbst – hell und kalt und alles unter sich erstickend wie Schnee.
4
Diana Covington:
Kansas
Eines Abends in einem anderen Leben fragte mich Eugene, der vor Rex und nach Claude kam, welche Assoziation die Vereinigten Staaten in mir weckten. Das war die Art von Fragen, die Gene gern stellte: sie forderten metaphorische Großspurigkeit geradezu heraus, was wiederum Gene zu Spott und Hohn herausforderte. Ich antwortete, daß die Vereinigten Staaten mich immerzu an ein kraftvolles, naives Tier erinnerten, das zwar von perfekter Schönheit war, jedoch die Gehirnkapazität eines beschränkten Rehs hatte. Wie herrlich es seine schlanken Muskeln in der Sonne streckt! Wie herrlich hoch es springt! Wie herrlich anmutig es direkt in den Weg des herannahenden Zuges läuft! Diese Antwort hatte den Vorteil, von so gewollt bombastischer Schwülstigkeit zu sein, daß es sich erübrigte, aus diesem Grund Einwände dagegen zu finden. Es stand gar nicht zur
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