Bettler 03 - Bettlers Ritt
nichts.
Jedoch nicht genug.
16
Als Lizzie aufwachte, war Vicki immer noch nicht zurück.
Es machte keinerlei Schwierigkeiten zu wissen, wer im Lager war und wer fehlte, denn alle versammelten sich zur selben Zeit zum Frühstück unter der Plane auf dem Nährplatz und jeder lag oder saß an seinem angestammten Ort. Manche – Norma Kroll, Oma Seifert und Sam Wehster etwa – lagen sogar in immer gleicher Stellung da. Tag für Tag. Während der Nahrungsaufnahme sprachen die Leute leise miteinander und verließen dann den Nährplatz in immer gleicher Reihenfolge, um sich wieder ihren immer gleichen Beschäftigungen zuzuwenden: Sie brachten frische Erde, noch reich an ungenutzten Nährstoffen; sie machten das Gebäude sauber; sie kümmerten sich um die Kinder, die immerzu mit demselben Spielzeug an denselben Orten spielten; sie fertigten Dinge aus Holz oder Stoff an oder holten das Holz aus dem Wald und den Stoff aus dem WebRob. Tag für Tag.
Das Mittagessen immerzu zur exakt gleichen Zeit, an demselben Ort.
Nachmittagsschlaf für die Kinder, Basteleien, Holo-Schauen, Wasserholen, Kartenspielen oder Gymnastik für die Erwachsenen. Abendessen wie immer unter der Plane. Hinterher, wenn wegen des viel zu kalten Aprilwetters alle drinnen blieben, immerzu dieselben Geschichten. Würden sie auch im Juni oder im August drinnenbleiben, bloß weil es im April zur Gewohnheit geworden war?
»Ich halte es nicht mehr aus«, sagte Lizzie zu ihrer Mutter, und Annie antwortete: »Bis’ immer schon so ‘n unruhiges Ding gewesen, du! Solltest es zu schätzen wissen, wie sicher un’ friedlich wir’s hier haben. Willst denn nich’ Frieden haben, du? Für dein Baby?«
»Aber doch nich’ so!« schrie Lizzie, doch Annie schüttelte nur den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihren Wandbehang, den sie aus gewebtem Stoff, Steinchen und getrockneten Blumen bastelte. Und wenn der fertig ist, dachte Lizzie in ohnmächtiger Wut, dann fängt sie mit dem nächsten an. Um zehn Uhr nachts würden sie und Billy zu Bett gehen, weil zehn Uhr nachts Schlafenszeit für die beiden war. Wahrscheinlich gab es auch Sex immer am gleichen Tag jeder Woche, zur gleichen Stunde in immer genau der gleichen Stellung. Shockey und Sharon in ihrem Verschlag nebenan hielten es jedenfalls so. Dienstag und Samstag nachts und sonntags am Nachmittag. Man konnte die Uhr danach stellen.
Als Vicki im Lager gewesen war, hatte sie wenigstens jemanden gehabt, mit dem sie reden konnte. Vicki war nervös gewesen, aufgeregt, frustriert, unberechenbar: real. Sie war mit Lizzie über die Waldwege gestapft, Dreck an den Stiefeln, und hatte über ihre Ängste und Hoffnungen geredet. Und manchmal hatte es Lizzie geschienen, daß Vicki das eine vom anderen nicht trennte.
»Wir müssen uns an Jackson halten, Lizzie«, hatte Vicki gesagt und die Faust in die hohle Hand geklatscht, »so sehr es mir auch widerstrebt, aber er und dieser ausnehmend abstoßende Wissenschaftler-Freund von Jackson, Thurmond Rogers, sind die einzige Möglichkeit für uns, an die medizinische Wurzel unseres Problems zu kommen. Es ist ein medizinisches Problem, und daher kann es am besten mit medizinischen Mitteln bekämpft werden. Die chemischen Vorgänge im Gehirn wurden auf irgendeine Weise verändert, und wir…«
»Warte!« rief Lizzie. »Warte!«
Vicki sah sie an.
»Is’ nich’ bloß ‘n medizinisches Problem, das.« Sie hörte sich in den Nutzer-Slang abgleiten und haßte sich dafür. Würde sie den eigentlich nie wirklich ablegen? »Hat auch ‘ne politische Seite. Irgendwer tut uns das doch an, oder? Passiert doch nich’ von allein, das!«
»Ja, natürlich, du hast recht. Aber wir können die Ursache nicht direkt angehen – diesen Versuch haben wir schon bei den Wahlen gemacht, erinnerst du dich? Wir können nur darauf hoffen, die Resultate zu manipulieren… Komm schon, Jackson, ruf endlich an!«
Und offenbar hatte Jackson genau das getan, denn nun war Vicki verschwunden. War sie in Jacksons wunderbarer Wohnung in Manhattan-Ost? Bei Kelvin-Castner in Boston? Lizzie wußte es nicht.
Aber das allerschlimmste war Dirk.
»Schau, Dirk, ein Eichhörnchen!«
An jenem Nachmittag hatte sie ihn ein Stück in den vorfrühlingshaften Wald hineingetragen, eingemummt in seine warmen Wintersachen; ein Büschel schwarzer Haare hing ihm unter der hellroten Kapuze hervor in die Stirn. Während des ganzen kurzen Spazierganges hatte Dirk das Gesicht in Lizzies Schulter vergraben und sich
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