Bettler 03 - Bettlers Ritt
Mondbasis Selene
VIA: Bodenstation San Diego, GEO-Satellit C-988 (USA), Holsat IV, (Ägypten)
NACHRICHT – ART: nicht verschlüsselt
NACHRICHT – KLASSE: Klasse B, privat bezahlte Übermittlung
AUSGEHEND VON: Elternvereinigung San Diego
NACHRICHT LAUTET:
Doktor Miranda Sharifi und Kollegen!
Im Bewußtsein, daß Sie das Prinzip vertreten, der Mensch wäre nie mehr er selbst als in jenem Augenblick, da er Entscheidungen für andere treffen muß, treten wir mit einer Bitte an Sie heran. Ihr Geschenk der Umstellungs -Spritzen hat unser Leben von Grund auf verändert. Dank Ihrer Bemühungen sind unsere Kinder jetzt gesund und stark. Aber der Vorrat dieser Spritzen geht in unserer Enklave – ebenso wie in den anderen – zur Neige, und sehr bald wird er aufgebraucht sein. Die Kinder, die danach zur Welt kommen, werden anfällig für Krankheiten, Vergiftungen und andere gesundheitliche Gefahren sein.
Frau Doktor Sharifi, bitte lassen Sie nicht zu, daß das geschieht! Unsere Kinder sind etwas sehr Kostbares für uns, sie sind unsere Zukunft. Sie, Frau Doktor Sharifi, haben sich stets als so mitfühlend und wohltätig Ihren Mitmenschen gegenüber gezeigt, daß wir, die Elternschaft der Enklave San Diego, Sie nun darum ersuchen, es wieder zu sein. Wir ersuchen Sie um Umstellungs -Spritzen für Kinder, die uns noch nicht geboren sind. Bitte lassen Sie das – aus Ihrer tiefen Einsicht in das Wesen der Menschheit heraus – Ihre höchste Zielsetzung sein, denn wir bitten nicht für uns selbst, sondern für unsere ungeborenen Kinder.
BESTÄTIGUNG: keine
5
Seit weniger als einer halben Stunde flogen sie über Afrika, und schon begann das Flugzeug zu sinken. Jennifer Sharifi sah aus dem Fenster. Im Rosarot des jungen Morgens flimmerte die Silhouette einer Stadt, und man hätte nicht sagen können, ob die Gebäude nun tatsächlich existierten oder nicht. Die Heisenbergsche Unschärferelation, dachte Jennifer, ohne zu lächeln.
»Atar«, sagte Will Sandaleros und streckte sich, soweit es die Enge der viersitzigen Mitsu-Boeing zuließ. Zwei Tage zuvor waren Jennifer und er von Sanctuary heruntergekommen – zum erstenmal seit jenem Tag vor vier Monaten, als sie von der Erde zur Orbitalstation der Schlaflosen zurückgekehrt waren. Mittlerweile hatte man auf Sanctuary alle Spuren von Miranda und den anderen SuperS getilgt. Auch die Freunde, die zusammen mit Jennifer verurteilt worden waren, hatten sich wieder in Sanctuary eingefunden; ihre kürzeren Freiheitsstrafen waren seit langem abgesessen: Caroline Renleigh, Paul Aleone, Cassie Blumenthal und die anderen. Sie waren zurückgekehrt, um den Kampf um die Freiheit zu Ende zu führen.
Doch nur Jennifer und Will hatten diese Reise hinunter zum internationalen Raumpendler-Hafen auf Madeira unternommen. Sie hatten sich direkt ins Hotel Machado begeben, das vor langem über eine kompliziert verschachtelte Konstruktion verdeckter Unternehmen im Eigentum von Sanctuary errichtet worden war und Geschäftsreisenden von den Orbitalstationen und der Erde unübertroffene Sicherheit garantierte. Zwei Tage lang waren Will und Jennifer in ihrem mit Y-Energie abgeschirmten Zimmer geblieben, während das Hotelpersonal – zur Hälfte Schlaflose, zur Hälfte gut bezahlte Normalos – die Identität aller Agenten, Reporter, Terroristen und Verrückten feststellte, die sich unweigerlich an Jennifers Fersen hefteten, wann immer sie sich zeigte. Und am Vorabend hatten Jennifer und Will das Machado durch einen unterirdischen Gang verlassen, der zusammen mit dem Hotel gebaut und so geheim gehalten worden war, daß nur zehn Personen auf der ganzen Welt von seiner Existenz wußten. Ein Wagen hatte sie zur Küste und zur Mitsu-Boeing gebracht. Und nun war Will, an regelmäßiges Körpertraining gewohnt, bereits unruhig nach diesen drei Tagen in Fahrzeugen oder abgeschirmten Räumen.
Jennifer war nie unruhig. Sie hatte gelernt, stundenlang, tagelang – monatelang – vollkommen ruhig dazusitzen und sich in ihre Gedanken zurückzuziehen. Will würde das auch lernen müssen. Diese Selbstdisziplin war notwendig, um alles in sich zu sammeln und auf einen Punkt zu bringen, so wie die Strahlen der Sonne, die durch ein unbewegtes Vergrößerungsglas gebündelt und auf einen einzigen Punkt gerichtet wurden. Auf den Brennpunkt.
»Man wird uns erwarten?« fragte sie den Piloten über die Sitzlehne hinweg. Er nickte. Sein braunes Haar, die grauen Augen und seine gleichmütigen Gesichtszüge
Weitere Kostenlose Bücher