Bettler und Hase. Roman
sein wie sie, er musste vorwärtsgehen, auch wenn er nicht wusste, wohin ihn sein Weg führen würde. Die Unterkunft der Männer war zerstört worden, man hatte ihnen die Erwerbsmöglichkeit genommen, und was tat Jegor Kugar? Er fragte die Brüder Vatanescu/Balthazar allen Ernstes, ob sie Verständnis für die allgemeine Lage hätten.
Die allgemeine Lage?
Hier ist doch alles bloß privat.
Private Menschen. Privates Eigentum. Das Recht des privaten Erwerbstätigen auf Stollenschuhe.
»Ist das in eurem Schädel angekommen? Oder muss man euch erst noch erklären, warum Kündigungen nötig sind?«
Vatanescu sah Jegor Kugar zum ersten Mal in die Augen.
Du Schwein.
Das war geflüstert, doch Jegor hörte es. Nach kurzer Stille, einer Stille, in der ein Mann wie Jegor Kugar entscheidet, ob er dem anderen sofort eine auf die Zwölf gibt oder ob er die sozial akzeptablere Kunst der verbalen Erniedrigung anwenden soll, sagte er ganz ruhig, Vatanescu sei mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden. Vatanescu kniff die Augen zusammen. Jegor Kugar berichtet:
»Ich schickte ihn auf die Landstraße. Kündigte ihm wegen Vertrauensbruch. Entfernte ihn aus dem E-Mail-Verteiler. Beim Betteln kommt es auf einen Einzelnen nicht an. Wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation, für uns gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage wie für jedes andere Geschäft auch. Ich verkaufe die Kerle, ich investiere in sie, sie müssen Ertrag bringen. Vatanescu war von Anfang an bloß ein Kostenfaktor. Ich verhängte über die Kanaille ein Erwerbsverbot für alle Gebiete, die unsere Organisation kontrollierte, sprich für jede Ortschaft, jede Stadt, jedes Land, jede Turnhalle von mehr als siebentausend Leuten in ganz Europa. Weil ich aber ein guter Mensch bin, stellte ich ein kleines Kündigungs- und Rentenpaket zusammen und gab Vatanescu zwanzig Euro.«
In der Hand den Zwanzigeuroschein. Hinter sich das zerstörte Wohngebiet. Die geraubte Erwerbsmöglichkeit. Vatanescu hatte nichts mehr, und darum ließ er seinen Körper tun, was dieser wollte. Er zerknüllte den Geldschein in der Faust, machte einen Schritt zurück und stürzte sich auf Jegor Kugar. Plötzlich bekam Vatanescu Kräfte, von denen er bisher nichts geahnt hatte. Er stieß mit dem Kopf zu, sodass Kugar das Gleichgewicht verlor und mit dem Hintern auf dem Pflaster landete.
Balthazar setzte sich auf ihn und anschließend der Reihe nach alle anderen Bettler.
Vatanescu schnappte sich das Geldbündel, das Jegor in der Hand hielt, und rannte, wie er noch nie gerannt war.
Einmal passierte in Vatanescus Heimatdorf Folgendes: Das Dorf wurde abgerissen. Die hundert Jahre alten Viehställe mit ihren Steinsockeln und die Mühle waren plötzlich nicht mehr da. Man planierte das Gelände, zäunte es ein, und dann wurde eine Fabrik für Mobiltelefone errichtet. Vatanescu bewarb sich dort um Arbeit, aber eher bekam ein Affe Arbeit als einer wie er, denn immerhin gab es Zoos und Shows. Einzig und allein das Häuschen von Tudos Komar blieb erhalten. Und zwar deshalb, weil es seit byzantinischen Zeiten alle Umwälzungen in Europa überstanden hatte. Vielleicht auch, damit es später einmal von einem engagierten Dokumentarfilmer aus Nordeuropa entdeckt werden kann, der dann mit der Geschichte von Tudos Komar Stipendien und Preise einheimst. Vielleicht weil die Welt sich ändert, aber Tudos Komar nicht. Jeden Morgen tritt Tudos aus seiner Kate, spuckt einmal nach links und dreimal nach rechts, begrüßt alle lebendigen Wesen um sich herum und schreitet zum Abort. Über den Feldweg vor Komars Häuschen sind schon die Naziarmee, die Kommunistenarmee und Coca-Cola-Laster gezogen, und jetzt wird er asphaltiert.
Tudos lächelt. Oder ist es die halbseitige Lähmung, die dem alten Mann das Gesicht verzieht?
Vatanescu besaß nun ein Gangsterbündel Bares – vierhundertachtzig Euro. Wenn man bei null angefangen hat, sind fünf Hunderter schon dicht am Mythos, zumindest aber bekommt man dafür Stollenschuhe. Am nächsten Morgen, sobald die Sportgeschäfte mit den großen Fensterscheiben ihre Türen öffneten, würde Vatanescu hineinspazieren und die Schuhe aussuchen, mit denen der zurzeit beste und teuerste Spieler der Welt auflief. Was übrig bliebe, konnte als Grundstock für etwas Größeres dienen.
Ohne ein Anliegen wäre meine Tat bloß die Schnapsidee eines schrottreifen Menschen gewesen.
So, wie es die Taten der Menschen häufig sind.
Gib deiner Tat einen Sinn!
Gib ihr Bedeutung!
Die
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