Bettler und Hase. Roman
flüsterte sie ihm ins Ohr, noch besser wäre Liebe. Die Chance darauf war jedoch verschwindend gering.
Mit der Wartenummer 106 kam Liisi Tunder an die Reihe, 12 . 12 . 20 , Schütze, eine schön gealterte Dame, die vor Hertta am verglasten Schalter saß, aber innerlich über die Straßen ihrer Kindheit fuhr, in einem Mietwagen, den ein Chauffeur namens Alzheimer steuerte. Man hatte Frau Tunder nackt auf der Straße aufgegriffen, nur mit Stützstrümpfen bekleidet und mit einem Kaffeekessel in der Hand. Sie fragte die Passanten, ob der Bombenangriff vorbei sei und warum sie ihre beste Freundin Ulrika nirgends finden könne. Frau Tunder war von einem gleichaltrigen, ebenso erschrockenen wie ratlosen Mann ins Krankenhaus gebracht worden, von ihrem Lebensgefährten. Hertta buchte ihm ein Hotelzimmer in der Nähe. Man gab Frau Tunder eine Spritze in den vogelhaften Arm, dadurch kam der Schlaf, und Hertta fragte sich, wie viele Menschen es wohl auf der Welt gab, die man eigentlich ohne zeitliche Begrenzung streicheln müsste.
Der nächste Kunde trat ohne Wartenummer an den Schalter, er blutete aus der Nase, nannte sich Flägä und erinnerte sich nicht an sein Geburtsdatum. Er wusste nur noch, dass er Temgesic und eine vorläufig namenlose flüssige Droge genommen hatte. Nun durchlebte er eine schwere Spaltung seiner Persönlichkeit und wollte unbedingt der Welt des Herrn der Fliegen entkommen und die Handschellen des sechsten Neurons loswerden. Weil man Flägä nicht in den Griff bekam, wurde er mit Gurten fixiert. So hatte man es auch in der Vorwoche machen müssen, und so würde man es immer wieder tun, bis Flägä im Gefängnis, im Tod oder bei der Heilsarmee landete.
Ach, all die lieben Kinder, was für ein Leben und Suchen, ach, all die Gequälten, dachte Hertta. Die ganze Lieblosigkeit überall, die kalte Stimmung an den Frühstückstischen, die einsamen Schulwege, ach, was für eine Welt, in der die Chemie Hilfe verspricht, nicht etwa Geld oder der Nachbar. Ach, ihr und euer Bedürfnis, Dinge zu vergessen, die euch womöglich gar nicht passieren. Warum überlasst ihr die Chemie nicht dem Schulunterricht, warum geht ihr nicht in die Chemiestunden und bereitet euch aufs Arbeitsleben vor?!
Vatanescu saß zehn Meter von Hertta entfernt. Er versteckte das Kaninchen unter der Jacke und wagte es nicht, irgendjemanden anzuschauen, außer dem lächelnden Mädchen, das ihm gegenübersaß, einem vielleicht sechsjährigen Kind mit Zöpfen, in dessen Augen Leben, also Freude lag. Das Pflaster am Arm des Mädchens ließ darauf schließen, dass man ihm Blut abgenommen hatte, und diese Heldentat war mit einem Eis am Stiel belohnt worden. Die kleinen Zähne knackten die Schokolade, damit die Zunge über die bloßgelegte Vanille lecken konnte.
Das Kaninchen drängte aus dem Ärmel in die Freiheit, aber Vatanescu hinderte es daran, worauf es das Kaninchen durch den Kragen versuchte, aber auch da wurde es von Vatanescus Hand aufgehalten. Das kleine Mädchen bemerkte das Tier trotzdem, leckte aber weiter an seinem Eis. Kinder staunen über das Ungewöhnliche viel weniger als über Normalität und Konvention.
Allerdings fragte sich die Mutter des Mädchens verwundert, wem das Kind zulächelte und Grimassen schnitt, diesem ausländischen Penner etwa, der nach Kanalisation roch? Das Kaninchen kroch wieder in den Ärmel, Vatanescu wandte den Blick ab, und so ging das Spiel weiter. Indessen wechselten die Wartenummern, noch zwanzig Leute, bis Vatanescu an die Reihe kam. Das Mädchen ließ sich auf den Schoß der Mutter sinken, und beim Blick auf all die Vergrippten, Müden, Krummen und Gekrümmten ringsherum wurde Vatanescu selber müde. Draußen hörte man die Stadt erwachen, die Straßenlampen vor den Fenstern gingen aus, an ihrer Stelle mühte sich die Sonne hinterm Wolkenschleier ab, und Vatanescu versank erneut im Schlaf.
Er wachte auf, weil ihm das kleine Mädchen mit dem Finger aufs Knie tippte. Es deutete auf die Anzeigetafel und dann auf die Nummer, die auf Vatanescus Zettel stand.
Die Fähigkeit, mit Fremdsprachen umzugehen, hatte Vatanescu als Kind sozusagen von der Diktatur geschenkt bekommen. Vor den Olympischen Spielen 1984 wurden nämlich in der Schule offizielle, von einer Erfrischungsgetränkemarke gesponserte Werbeheftchen verteilt, weil Rumänien neben China das einzige Land des sozialistischen Blocks war, das an den Spielen teilnahm. Die Helden aus Vatanescus Kindheit waren Sportler namens Nadia, Ilie und
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