Beuterausch
Schmerz zu vertreiben, der brennt und pocht und in seinen rechten Arm hinauffährt, schüttelt sie, damit er aufhört. Dieses eigentlich unmögliche, plötzliche Ereignis. Das Blut spritzt auch auf ihn. Auf sein Gesicht, sein Hemd.
»Ahhh! Beschissene Schlampe!«, schreit er.
Er geht einen wackeligen Schritt zurück und stolpert beinahe. Fängt sich wieder.
»Schlampe!«, schreit er wieder. Die eigene Stimme klingt seltsam in seinen Ohren. Ein heiseres Brüllen. Ein Geräusch, wie es sein verfluchter Vater hätte ausstoßen können.
Er fängt ihren Blick auf. In ihren Augen liegt die Andeutung eines Lächelns. Sie lächelt. Die Fotze lächelt! Er beobachtet sie – hört, wie sie kaut. Zähne auf Knochen. Seinem Knochen. Einmal. Zähne mahlen. Zweimal. Dreimal.
Sie schluckt.
Die Frau hat ihn geschmeckt. Sein Fleisch ist ihres. Sein Blut klebt dickflüssig und süß auf ihren Lippen wie Honig. Deshalb spielt es keine Rolle, was danach geschieht, spielt es keine Rolle, dass er mit den Fäusten auf sie eindrischt, ihre Lippen aufplatzen und der Schmerz in ihrem Kopf schlimmer wütet als vorhin beim Aufwachen. Es spielt keine Rolle, weil sie den Mann nun gewarnt hat und er es zur Kenntnis genommen hat und sie ihn jetzt einschätzen kann.
Sie hat ihn geschmeckt.
Cleek schlägt sie wieder und wieder. Er ist rasend. Er ist jetzt ganz sein Vater. Sie blutet aus dem Mund, und ein Auge ist mit Blut gefüllt, aber sie schließt die Augen nicht, und dieses Lächeln verschwindet nicht, und er bemerkt, dass er schreit, speit wie eine Schlange, und Blut fliegt aus ihrem Mund, sie beide sprenkeln den Kellerboden rot, bis sich schließlich, als er am Rande der Erschöpfung ist, die verfluchten Augen schließen und sie schlaff vor ihm hängt.
Er tritt zurück, verstört von dem, was er getan hat und was ihm angetan wurde.
Und was er als Nächstes sagt, wird eine Stunde später überhaupt keinen Sinn für ihn ergeben.
Eine weitere Stunde später hingegen schon.
»Das ist einfach kein zivilisiertes Benehmen! «, brüllt er.
Genau in diesem Augenblick überschwemmt ihn der Schmerz. Nicht nur aus seiner blutigen rechten Hand, die er mit der anderen fest umklammert, sondern, so empfindet er, aus jedem Knochen und Muskel seines Körpers. Seine Lungen brennen.
Er wirft ihr noch einen letzten Blick zu und sieht Blut aus ihrem Mund auf den staubigen Boden tropfen.
Darüber unterhalten wir beide uns noch, denkt er. Wir sind noch nicht fertig miteinander.
Er schlurft zur Treppe.
8
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Ihre Aufmerksamkeit lässt nach, dachte sie. Verdammt, ohne mein Aussehen würden sie völlig abschalten. Wie ist es möglich, dass einen fast die ganze Klasse so mürrisch ansieht? Wie schaffte sie es nur, aus Geometrie etwas Größeres und Wichtigeres zu machen als Kreideziffern auf der Tafel?
Als sie in ihrem Alter gewesen war, war die Geometrie für sie wichtiger und größer gewesen. Genevieve Raton hatte als Jugendliche auf eine andere Tafel in einer anderen Stadt geblickt und die Positionen der Sterne und Planeten, Kornkreise, die ägyptischen Pyramiden, die Topologie einer Gebirgskette gesehen. Das Lineal hielt für sie das Prinzip der Ordnung aufrecht. Der Zirkel verströmte Würde, Symmetrie, sogar etwas Geheimnisvolles.
Doch das Lehren lag ihr wahrscheinlich einfach nicht im Blut, dachte sie. Descartes hingegen schon. Physik auch. Aber warum sollte das so viel ausmachen? Bei ihr war es nicht der Fall gewesen. Ihr eigener Lehrer hatte auch keine große Begabung zum Lehren gehabt. Es war das Fach, das sie fasziniert hatte, nicht der Mann. Mein Gott, Mr. Boorman hatte um die Achseln immer gelbe Schweißflecke auf seinem gestärkten weißen Hemd gehabt.
Zumindest sprach ihre Jugend für sie. Es war erst ihr zweites Jahr an der Schule, sie war noch ziemlich frisch vom College. Deshalb konnten sich die Schüler auf persönlicher Ebene ein wenig besser mit ihr einlassen. Und die Jungen konnten sich darauf einlassen, dass sie hübsch war.
Nur auf Geometrie konnten sie sich nicht einlassen.
Der Raum strotzte vor Apathie.
Sie seufzte und bedauerte es sofort. Mit Kindern musste man optimistisch sein, egal, was geschah.
»Also gut, wer kann mir sagen, was ein ungleichmäßiges Dreieck ist?«
»Es hat drei unterschiedlich lange Seiten!«
Das war Jack. Schon wieder Jack. Ihr einziger richtig aufmerksamer Schüler in Geometrie – er konnte nicht anders, als mit der Lösung herauszuplatzen. Das brachte ihm sofort den Spott des Großteils der
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