Beuterausch
Appetit fürs Abendessen«, sagt Belle. Sie rührt in der Bratensoße.
»Auf keinen Fall.«
»Das sagst du jetzt.«
»Allerdings.«
Chris sieht, wie sie wieder einen Blick auf seinen Finger wirft, dessen Verband an der Spitze braun ist. Er hat mit ihr und den Kindern schon über das Thema gesprochen, ihnen aber praktisch nichts erzählt. Ich hatte einen kleinen Unfall bei einem neuen Projekt von mir. Keine große Sache. Zum Glück war niemand in der Nähe und hat mitbekommen, wie er das verdammte Ding behandelte. Schließlich sind es Frauen. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn eine von ihnen ohnmächtig geworden wäre.
Morgen würde er zu Dr. Richardson gehen. Sich eine Spritze oder so abholen.
Wer weiß, was sie alles im Mund hatte.
Er isst den letzten Bissen vom Maisbrot und leckt sich die Finger ab.
»Okay. Kommt ihr alle mit mir runter in den Keller?«
»Schon wieder?«, sagt Peggy.
»Schon wieder zur Essenszeit? «, sagt seine Frau.
»Es ist ein Schmorbraten, Belle. Lass ihn köcheln. Ihr müsst euch das ansehen.«
Sie blickt ihn einen Moment an, dann seufzt sie, wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und schenkt ihm ein nachsichtiges Lächeln.
»Los, Mädchen. Tut, was euer Vater sagt.«
Sie sind unten. Alle versammelt. Am Fuß der Treppe. Peggy und Darlin’ halten sich an den Händen. Brians Mund steht weit offen. Brian war als Erster unten, äußerst aufgeregt. Als sie über den Rasen gingen, fragte er, was hast du da drin, Dad? Einen Berglöwen? Es war natürlich ein Scherz, und Cleek antwortete mit einem Grinsen. Etwas tausendmal Interessanteres als einen Berglöwen, mein Junge, sagte er. Jetzt steht Brian also dort neben ihm. Und sein Vater hatte recht. Das ist viel interessanter als jede Raubkatze.
Brian sieht …
… die erste halb nackte Frau in seinem Leben. Es ruft mehr in ihm hervor als nur das, denn Brian ist ein vielschichtiger junger Mann, aber es ist die primäre und ursprüngliche Empfindung. Er kann seine Augen kaum von den Brüsten abwenden, um den Rest von ihr aufzunehmen – das blutige Gesicht, das verklebte Haar. Es entgeht ihm nicht, dass sie angekettet und hilflos ist. Auch ihre schiere Größe nimmt er wahr. Doch er hat noch nie Pegs Brüste gesehen, und an die seiner Mutter erinnert er sich nicht mehr. Er spürt sein Herz klopfen. Er spürt ein Zittern.
Und Peggy sieht …
… eine Frau, die an die Wand gefesselt ist. Jemand hat ihr wehgetan, und dieser Jemand ist wahrscheinlich ihr Vater. Sie ist schlimm geschlagen worden. Ihr Mund ist blutig, und auch aus ihrem Ohr fließt Blut. Peg kommt die Frage in den Sinn, wie der Frau das passieren konnte. Sie ist groß und sieht stark aus und hätte sich wehren können. Peggy ist beeindruckt von der Ruhe, die von ihr ausgeht, eine stille Wachsamkeit – aber sie fürchtet sich auch vor der Frau. Ihr Geruch ängstigt sie. Der Dreck ängstigt sie. Was hat ihr Vater getan? Wie verrückt ist das Ganze? Und wie kann sie, Peg, weiter in diesem beschissenen Haus leben?
Und Belle sieht …
… etwas Falsches, Böses . In ihrer Größe und der Wildheit, die sie deutlich in ihr lesen kann, so wie ihre Mutter auf Partys in Handflächen gelesen hat, und ihrem Gestank und ihren Narben sieht sie, was niemals aus einer Frau werden sollte, was aus keinem Menschen jemals werden sollte. Chris Cleek glaubt nicht an Gott oder den Teufel, er tut nur so. Aber sie glaubt daran, und sie weiß, dass sie einer Art Teufel gegenübersteht, und spürt ein fast angenehmes grausiges Prickeln angesichts des bevorstehenden Kontrollverlusts, Ketten hin oder her, sie merkt, wie ihr die Kontrolle entgleitet – und dann ist sie plötzlich so traurig wegen Chris und sich selbst und der Familie und dem Leben, das sie führen, dass sie beinah zu weinen beginnt. Doch stattdessen stählt sie sich. Für das, was immer auch kommen mag.
Und Darlin’ sieht …
… eine Frau aus einem Bilderbuch, aus einem Märchen, wo Frauen in Türmen gefangen gehalten werden oder vergiftete Äpfel bekommen, oder wie in dem Film, in dem die Frau an die beiden Pfosten gefesselt ist und warten muss, bis der riesige Affe kommt, kein schönes Märchen, sondern die Art von Geschichte, bei der man anfangs weinen möchte, die dann aber doch gut ausgeht, die Frau kommt aus dem Turm frei, der Prinz weckt sie auf, und der Affe stirbt. Doch der Tod des Affen ist auch irgendwie traurig. Und die Frau hier riecht wie ein Affe, oder zumindest stellt Darlin’ sich vor, so würde er
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