Beuterausch
und schmeckt das Blut, und als er sauber ist, nimmt sie die Wasserflasche in diese Hand und streckt dem kleinen Mädchen den rechten Zeigefinger entgegen. Das Mädchen tritt einen Schritt nach vorn.
»Darlin’!«, sagt ihre Schwester. Aus der Art, wie sie das sagt, schließt die Frau, dass es der Name des kleinen Mädchens ist. Darlin’.
Das kleine Mädchen entgegnet etwas und macht einen weiteren Schritt nach vorn und berührt den Finger mit ihren Lippen. Die Lippen sind geschlossen und gespitzt. Es ist weder ein Saugen noch ein Beißen. Es ist nur eine Berührung.
Interessant.
Peg weiß nicht, was sie von all dem halten soll, aber an dieser Frau klebt das Blut ihrer Familie, mag sie auch noch so abscheulich gewesen sein. Darleen ist nur ein Kind, noch unschuldig, doch das, was sie getan hat, stößt Peg ab und verwirrt sie. Wie kann sie diesen Menschen küssen?
Sie hüpft unter Schmerzen zu ihrer Schwester schlingt die Arme um sie und zieht sie zurück, sodass Darlin’ hinter ihr ist und sie selbst zwischen ihr und der Frau steht. Sie ist diejenige, die sie freigelassen hat. Sie trägt die Verantwortung.
Sie weiß, was die Frau tun kann. Sie weiß jedoch nicht, was sie selbst tun kann.
Irgendwas. Vielleicht.
Darlin hat gedacht: Die Frau ist verletzt. Sie ist voller Wunden.
Die Frau braucht ein Küsschen, damit es besser wird.
So einfach ist das.
»Bitte«, sagt Peg, »lass uns einfach gehen.«
Die Frau streckt wieder den Finger aus, dieses Mal bietet sie ihn der großen Schwester an.
»Für das Kind, Mutter«, sagt sie. »Für das Kind.«
»Do na leanbh, matheir«, hört Peg. »Do na leanbh.« Die Stimme der Frau klingt rau, aber nicht bedrohlich. Auch wenn Peg die Worte nicht versteht, versteht sie doch, was sie tun soll. Sie soll von dem Blut trinken.
So etwas wird sie nicht tun.
Die Frau ist enttäuscht. In ihrer Familie wäre das ein Geschenk gewesen, eine Ehrung. Es wäre niemals abgelehnt worden.
Aber ihre Familie gibt es nicht mehr.
Trotzdem glaubt sie zu wissen, was sie tun muss.
Sie nähert sich, und das Mädchen weicht nicht vor ihr zurück. Doch ihre Haltung ist starr. Sie bereitet sich darauf vor, zu kämpfen, falls nötig. Die Frau könnte darüber lachen, doch es ist nicht die Zeit für Gelächter. Ihr ist ein Gedanke gekommen, der ihr sehr gut gefällt.
Sie streckt die Hand aus wie vorhin im Keller, aber dieses Mal langsam, um das Mädchen nicht zu erschrecken, so wie sie es bei einem verwundeten Tier täte, und legt die Hand auf ihren Bauch.
»Bahbai«, sagt sie.
Und da ist es wieder.
Das unerklärliche Gefühl von Sicherheit, das einhergeht mit dem Gefühl, erkannt zu werden, verstanden zu werden, einfach akzeptiert zu werden, all dies scheint diese wilde Frau auszustrahlen, die getötet hat und zweifellos wieder töten wird. Und trotzdem fühlt Peg sich getröstet, spürt, wie eine Last von ihren Schultern genommen wird, ohne dass Scham oder Schuld zurückbleiben, eine riesige Erleichterung.
Sie fühlt sich beruhigt. Sie fühlt sich frei.
Die Frau scheint sie einen Augenblick lang abzuschätzen. Dann wendet sie sich ab und geht ein paar Schritte vom Pfad in den Wald hinein, bückt sich und beginnt den Ast einer Birke abzuhacken. Sie braucht nur ein paar Hiebe dazu. Peg ist erstaunt über die Kraft der Frau. Die langen harten Muskelstränge, die sich auf ihrem Rücken bewegen. Sie vergisst das Blut und sieht die Stärke. Sie spürt, wie sie auf eine seltsame Art verführt wird – als tanzte die Frau für sie, für sie ganz allein.
Könnte sie selbst eines Tages so werden? So stark?
Vielleicht. Wünscht sie es sich? Ein Teil von ihr, vielleicht. Ein Teil von ihr ist fast sicher, dass sie es sich wünscht.
Die Frau kehrt zum Pfad zurück und reicht ihr den Ast. Er ist perfekt dazu geeignet, den verletzten Knöchel zu entlasten.
Sie nimmt Darlin’ bei der Hand und geht davon, lässt Peg allein zurück, während ihre blinde Schwester um die Füße der Frau tollt. Die Hüften der Frau schwingen in einem Peg völlig fremden Rhythmus von einer Seite zur anderen.
Einige Augenblicke später folgt Peg ihr.
Die Frau hat zwei Male alles verloren. Die Familie ihrer Eltern und ihre eigene. Ihre Sachen, ihre Waffen. Sie ist gezeichnet durch Narben von Messern und Gewehrkugeln. Sie ist nackt, doch sie wird Kleider nach ihrem eigenen Geschmack finden, wie es ihr immer gelungen ist. Sie wird andere Gegenstände und Waffen auftreiben. Die Erde ist ein gefährlicher Ort für sie,
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