Beuteschema: Thriller (German Edition)
dachte sie. Ganz wie das Spinnennetz, zu dem die Geschichte ihrer besten Freundin Amy Danforth geworden war. Und in der Mitte des Netzes saß ihr Mentor, Dr. Paul Curtin.
Claire wusste jetzt, dass Curtins Gutachten Peter Lewis lebenslänglich in ein kanadisches Gefängnis gebracht hatte. Peter Lewis, der die Vergewaltigung und Ermordung eines kleinen Mädchens im Jahr 1994 gestanden hatte. Peter Lewis alias Mr. Winslow, der 1989 Amy getötet hatte. Und deshalb saß sie nun auf dem kurzen Flug nach New York neben Nick: Um Curtin nach dieser merkwürdigen Wendung der Ereignisse zu fragen. Ein Telefonanruf hätte nicht genügt. Sie musste ihm ins Gesicht sehen, wenn sie ihn mit diesem bizarren Zufall konfrontierte.
Denn das ist es letztendlich wohl, oder? Ein bizarrer Zufall?
Claires Verstand spielte Tauziehen bei der Suche nach einer Erklärung: Wie war Curtin in all das verwickelt? Sie bemerkte, dass die Wolken unter ihr die Form von Gesichtern angenommen hatten. Amy mit ihren Zöpfen. Lewis mit seinem schiefen Lächeln. Ian, dessen entwaffnendes Lächeln sie so schmerzhaft vermisste. Quimby. Wütend.
Die Wolken verschwanden und machten endlos blauem Himmel Platz. » Hallo, Claire… Claire?« Nick versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Claire drehte den Kopf zu ihm. » Was ist?«, fragte sie mit ausdruckslosem Gesicht.
» Sie schauen seit dem Start aus diesem Fenster.«
Sie stieß einen tiefen, stillen Seufzer aus. » Es ist ein Zufall, nicht wahr, Nick?«, fragte sie unsicher.
» Es muss einer sein«, antwortete Nick. » Wenn Sie als Staatsanwalt ein Ungeheuer wie Peter Lewis anklagten, würden Sie nicht auch den besten Psychiater verpflichten, den Sie bekommen können?«
» Vermutlich haben Sie recht«, sagte Claire und klang erleichtert, auch wenn sie sich alles andere als erleichtert fühlte. » Er hat in Hunderten von Mordfällen ausgesagt.«
Nick sah sie vielsagend an. In den Wochen ihrer Zusammenarbeit hatte er die Zeichen zu erkennen gelernt, wenn Claires Worte nicht mit dem übereinstimmten, was sie dachte und fühlte. Ihre Wangen röteten sich dann, und sie kniff die Augen zusammen.
» Überlegen Sie doch mal«, versuchte er, sie zu beruhigen. » Wie könnte Curtin durch Lewis von Ihnen gewusst haben? Ihr Name taucht in der Prozessabschrift nicht auf.«
Claire lächelte ihn an. Er kennt mich zu gut.
» Wenn es Ihnen leichter fällt, kann ich Sie zu ihm begleiten«, bot Nick an.
» Das würde es zu offiziell aussehen lassen. Als ob wir ihn irgendwie verdächtigen würden.«
» Sie haben ihn ja tatsächlich irgendwie im Verdacht«, sagte Nick und beugte sich zu ihr. Ihre Gesichter berührten sich beinahe.
» Nicht unbedingt. Ich will nur seine Reaktion sehen.«
Nick lächelte. » Dann werden Sie ihn also anrufen und einen Termin vereinbaren?«
» Nein«, sagte Claire. » Ich denke, ich werde ihn überraschen.«
» Und sofort danach rufen Sie mich an«, sagte Nick in einem Tonfall, der ihr verriet, dass sie keine Wahl hatte.
Claire nickte. Wir ziehen das gemeinsam durch, dachte sie.
Claire betrat das Manhattan City Hospital in den Jeans und dem hellblauen Top, das sie auf dem Flug getragen hatte. Sie hatte es so eilig, in Curtins Büro zu kommen, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, sich umzuziehen, und sie war so überstürzt von Rochester aufgebrochen, dass sie noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wo sie in der Stadt wohnen wollte.
Sie marschierte in Richtung Psychiatrische Abteilung und sah auf die Uhr. Es war 16.27 Uhr. Als sie aufblickte, sah sie einen der Stipendiaten weiter vorn im Flur, der etwas auf ein Krankenblatt schrieb. Er beendet wohl gerade seine Visite, dachte sie. Und das bedeutete, Curtin würde bald in sein Büro zurückkehren.
Claire wich einem weiteren Kollegen aus, indem sie in einen anderen Flur abbog. Sie wusste, ihre Rolle bei der Aufklärung von Amys Tod war von den New Yorker Medien ausführlich gewürdigt worden, und sie fühlte sich stundenlangen Fragen nicht gewachsen. Sie konnte es ihren Kollegen allerdings kaum verübeln. Eine der ihren hatte jetzt nicht nur einen, sondern gleich zwei Serienmörder in wenigen Wochen dingfest gemacht. Wenn sie schon eine kleine Berühmtheit geworden war, weil sie dem Morden Todd Quimbys ein Ende gesetzt hatte, musste der Fall Lewis sie in den Augen ihrer Kollegen ohne Frage zum Rockstar machen.
Sie konnte sich vorstellen, was man sie fragen würde: Wie war es, den Mann zu befragen, der dich beinahe
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