Beuteschema: Thriller (German Edition)
fuchtelnd, zu dem Fahrzeug. Nick und seine Mutter folgten ihr.
Nick stieg als Erster durch die rechte hintere Tür ein und schnallte seine ältere Tochter an, dann reichte ihm seine Mutter das jüngere Mädchen in den Wagen.
» Du hast aber nicht vor, nachts zu fahren?«, fragte Helen ihren Sohn.
Nick sprang auf den Beifahrersitz und machte Claire ein Zeichen, sich hinters Steuer zu setzen.
Helen sah zu Claire, dann zu ihrem Sohn. » Verrätst du mir mal, wer sie ist?«, fragte sie.
» Eine Psychiaterin«, gab Nick zurück.
» Jesus, Maria und Josef, das wurde aber auch Zeit«, erwiderte seine Mutter.
» Claire Waters. Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Claire, legte den Gang ein und trat aufs Gaspedal.
Sie steuerte um den Müllwagen herum und brauste um die Ecke auf die Third Avenue, während die ersten Polizeiautos vom anderen Ende her in die Straße bogen.
Wie sich herausstellte, war das Glück mit ihnen. Die Ampeln waren alle grün. Claire gab Gas und hielt den Blick stur nach vorn gerichtet.
» Wohin fahren wir?«, fragte sie, ohne Nick anzusehen.
» Nach Norden.«
Die Fahrt schien Stunden zu dauern. Nick wies Claire an, ausschließlich auf Interstate-Highways zu bleiben, auf denen es zum einen viel Verkehr gab, zum andern viele Polizeipatrouillen, falls sie ein Scheinwerferpaar hinter ihnen entdeckten, das dieselben Manöver wie sie ausführte. Nick wusste, es war ein zweischneidiges Schwert. Falls es zu Schwierigkeiten kam, wollte er auf einer Straße sein, auf der zumindest die Chance bestand, dass ihnen Polizei zu Hilfe kam. Das Letzte, was er andererseits gebrauchen konnte, war, dass sie von einem gelangweilten Patrouillenbeamten an den Straßenrand gewinkt wurden und erklären mussten, wieso sie in einem Fahrzeug unterwegs waren, das theoretisch als gestohlen zu gelten hatte. Für alle Fälle wies Nick Claire an, nicht mehr als fünf Meilen die Stunde über dem Tempolimit zu fahren.
Claire erschien die Reise nicht nur endlos, sondern auch ziellos. Der Adrenalinstoß von vorhin ließ nach. Die lange Fahrt und die Anstrengung, die es kostete, keine Gefühlsregungen hochkommen zu lassen, erschöpften sie. Sie hatte den Eindruck, wenn sie die kommenden Ereignisse überleben wollte, durfte sie nicht über die Dinge nachdenken, die geschehen waren. Einfach immer weiter. Nicht stehen bleiben.
Ich habe einen Menschen getötet.
Die Worte drehten sich wieder und wieder in ihrem Kopf. Auch wenn sie wusste, dass ihre Tat als Notwehr definiert wurde, bedeutete der Akt, eine andere Person zu töten, einen solchen Schock, dass sie es nicht verarbeiten konnte.
Aus dem Augenwinkel sah sie Nick neben sich, der eine der Uzis zwischen Sitz und Tür hielt. Sein Gesicht war ausdruckslos, bar jeder Emotion, und Claire fragte sich, was er empfand. Oder ob er versuchte, nichts zu empfinden. Genau wie sie.
Claire sah, wie er sich zum wahrscheinlich hundertsten Mal umschaute, ob jemand hinter ihnen her war, obwohl sie im Rück- und Außenspiegel deutlich sah, dass außer ihnen kein Auto auf der Straße war. Und sie wusste, dass er in der tintenschwarzen Nacht ohnehin nicht viel sehen konnte.
» Entspannen Sie sich«, sagte sie. » Dahinten ist niemand.«
Nick drehte den Kopf wieder nach vorn und nickte. » Wie geht es Ihnen?«, fragte er.
Claire konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. » Ich weiß nicht, ob ich noch sehr lange fahren kann.«
» Halten Sie durch. Nur noch ein paar Meilen.«
» Sie wissen, wohin wir fahren? Warum haben Sie es mir nicht gesagt?« Sie war so erschöpft, dass sie ihre Verärgerung nicht verbergen konnte.
» Es war nicht nötig, dass Sie es wissen«, sagte Nick und sah das Schild für die Ausfahrt zur I-84, auf die er gewartet hatte. » Fahren Sie hier ab«, sagte er.
» Wollen Sie mich nicht einweihen?«, fragte Claire. » Wohin zum Teufel bringen Sie uns?«
» Biegen Sie am Ende der Ausfahrt einfach links ab und fahren Sie dann geradeaus in die Stadt.«
Die Stadt war Beacon, neunzig Kilometer nördlich von Manhattan und direkt gegenüber der größeren Stadt Newburgh am Hudson River gelegen. Ihr Ziel war das Beacon Inn, ein Bed and Breakfast in einem geräumigen Kolonialstilhaus am Stadtrand. Es gehörte seit Jahren Tim Donnelly, einem früheren Detective des NYPD , der kurz nach dem 11. September in den Ruhestand gegangen war. Tims Großzügigkeit war allen Polizisten Manhattans wohl bekannt, die mit einem Insassen der beiden nahegelegenen Staatsgefängnisse sprechen
Weitere Kostenlose Bücher