Beutewelt 06 - Friedensdämmerung
nicht!“
„Is` gut, Julchen!“, murmelte Frank zurück.
„Dann fahren wir jetzt nach Tula, oder was?“, hakte Alf nach.
„Ja, warum auch nicht?“, erwiderte Kohlhaas.
Ludwig Orthmann war stundenlang mit dem Zug nach Tula unterwegs gewesen und hatte sich schon lange drauf gefreut, den „Tag der russischen Einheit“ einmal selbst mitzuerleben. Seit einigen Monaten lebte er nun schon bei Klinsty, nahe der weißrussischen Grenze, und hatte in einem kleinen Dorf nördlich der Stadt eine neue Heimat gefunden. Etwa 50 weitere Deutsche waren dort ebenfalls angesiedelt wurden, zudem etwa 200 Flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern, hauptsächlich Franzosen.
Der nach Russland ausgewanderte Bewunderer Tschistokjows hatte sich noch nie so frei gefühlt, zudem konnte er hier seiner neuen Tätigkeit als Landwirt nachgehen, da ihm der russische Staat eine große, eigene Anbaufläche zur Verfügung gestellt hatte. Anfangs war dieses Leben für den Stadtmenschen aus Westeuropa noch ein wenig gewöhnungsbedürftig gewesen, doch Orthmann hatte sich schnell mit den neuen Verhältnissen arrangiert und da man sich unter den Dorfbewohnern gegenseitig aushalf, konnten die alltäglichen Mühen und Arbeiten des Lebens gut bewältigt werden.
Langsam lernte sich die neue Dorfgemeinschaft besser kennen und Ludwig Orthmann hatte vor allem unter seinen Landsleuten, aber auch bei den Franzosen, einige neue Freunde gefunden. Politisch waren sie alle auf einer Wellenlänge, teilten die tiefe Bewunderung für die Freiheitsbewegung der Rus und Artur Tschistokjow.
Der Deutsche war seit zwei Wochen nun auch Mitglied der Massenorganisation und hatte sich fest vorgenommen, sich in Zukunft kräftig zu engagieren, um seinen Beitrag zum Aufbau des Landes zu leisten.
Heute sollte sich jedenfalls einer seiner Träume erfüllen, denn der Gründer und Anführer der Freiheitsbewegung war auf dem Weg zum Versammlungsgelände, wie eine Durchsage soeben verkündet hatte.
Ludwig Orthmanns Herz klopfte, er versuchte sich näher in Richtung der von zahllosen Menschen belagerten Bühne vorzuschieben. Irgendwo standen auch einige Freunde aus seinem neuen Heimatdorf, doch sie waren längst in der gigantischen Menschenmasse verschwunden und Orthmann konnte sie nirgendwo mehr ausmachen.
Wie viele Besucher heute zum „Tag der russischen Einheit“ gekommen waren, konnte der Deutsche schwer abschätzen, aber es mussten Hunderttausende sein. Die johlende Menge erstreckte sich über den imposanten Platz über sämtliche Zufahrtsstraßen bis hin zum Horizont.
Ludwig Orthmann betrachtete die leuchten Drachenkopffahnen, die sich an den weißen Säulen in einiger Entfernung sanft im Wind bewegten und wie lange, zuckende Schlangen aussahen. In der Mitte des Platzes, mitten im Menschengewühl, erhob sich ein mehrere Dutzend Meter hohes Steinmonument in den Himmel, das auf einem breiten Sockel stand. Es war ein Abbild des von den Rus verehrten Warägerkönigs Rurik.
Plötzlich schrie und jubelte die Menge, denn ein Mann mit blonden Haaren betrat die Bühne und stelle sich hinter ein Rednerpult, von dem eine Drachenkopffahne herabhing. Es war Artur Tschistokjow.
Ludwig Orthmann stellte sich auf die Zehenspitzen, war aufgeregt, versuchte etwas mehr zu sehen, während alle um ihn herum in einen Beifallssturm ausbrachen.
Doch Tschistokjow blieb nur ein kleiner Fleck in der Ferne. Näher kam der Deutsche im allgemeinen Getöse nicht an ihn heran. Glücklicherweise konnte man aber alles auf riesigen Videoleinwänden verfolgen.
„Ich grüße Euch, meine russischen Landsleute!“, hallte es von der Bühne und die zahllosen Besucher des Spektakels versanken in einem Freudentaumel.
„Tschistokjow! Tschistokjow! Tschistokjow!“, donnerte ein ohrenbetäubend lauter Sprechchor über den Platz und verstummte erst nach einigen Minuten. Ludwig Orthmann war von der allgemeinen Atmosphäre begeistert und spitzte die Ohren, um möglichst viel von der russischen Rede zu verstehen.
„Heute, drei Jahre nach dem Sieg über den Kollektivismus, dieser Irrlehre der Aufspaltung und der gegenseitigen Zerfleischung, ist das russische Volk einiger denn je. Und wir arbeiten weiter daran, alle Schichten Russlands wieder zu einem einigen Volk zusammenzufügen. Denn wir müssen unseren Landsmann achten und lieben und ihm helfen, auch wenn er nicht zu unseren Berufsgruppe oder Schicht gehört. Eben weil er Russe ist und sein Schicksal von dem unseren nicht getrennt werden
Weitere Kostenlose Bücher