Beverly Barton, Hexenopfer
Brian, der einzige Sohn und gesetzliche Erbe. Er war viel älter als Genny, und ihre Wege hatten sich bis vor ein paar Jahren nicht oft gekreuzt. Als sich Wallace das Bein gebrochen hatte und ins Krankenhaus kam, hatte Farlan seinen Sohn geschickt, um sich der Sache anzunehmen. Da hatte sie Brian zum ersten Mal wirklich kennengelernt. Obwohl sie sich nie zuvor begegnet waren, hatte sie immer gewusst, wer er war – und dass er den Ruf hatte, ein herzloser Schweinehund zu sein.
Aus irgendeinem Grund hatte sich Brian in sie verliebt, und sie musste zugeben, dass ihr seine Aufmerksamkeit zunächst geschmeichelt hatte. Es war, als hätte ihr noch nie jemand nachgestellt. Dabei war das durchaus der Fall. Aber nie mit einer so hartnäckigen Entschlossenheit. Selbst die Gerüchte, sie sei eine Hexe wie ihre Großmutter, hatten Brian nicht abgeschreckt.
Sie liebte ihn jedenfalls nicht, und es gab Zeiten, da sie ihn nicht mochte. Doch sie spürte, wie verzweifelt er sie brauchte. Auch Wallace hatte ihr gegenüber erwähnt, welch guten Einfluss sie auf seinen Neffen ausübe. Wie sollte sie Brian also völlig abweisen? Aber sie hatte ihn nie belogen – hatte ihm nie falsche Hoffnungen gemacht.
»Ich möchte, dass wir Freunde sind«, hatte sie ihm gesagt, als er ihre Hand gehalten hatte.
Er hatte ihre Hand an seine Lippen geführt und zärtlich geküsst. »Das möchte ich auch. Ich möchte, dass wir gute Freunde werden. Ich bin ein geduldiger Mann, Genevieve. Ich kann auf dich warten, so lange es dauert.«
Genny schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken an Brian. In letzter Zeit war er ihr mit seiner unablässigen Aufmerksamkeit auf die Nerven gegangen, aber Jacob hatte mit ihm gesprochen, und das hatte Brians Glut anscheinend abgekühlt. Vorerst wenigstens. Genny ging davon aus, dass Jacob ihn auf seine starke, nüchterne Art bedroht hatte. Jacob war kein Mann für Feinheiten.
»Was ist los, Genny?«, fragte Wallace, als er ihr Mittagsgeschirr vom Tisch räumte und in die Spüle stellte.
Genny warf ihm einen Blick zu und lächelte. »Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber?«
»Über Jacob.«
»Ich mag Jacob. Er ist ein guter Mann.«
Genny legte Wallace die Hand auf die Schulter. »Er hat eine sehr schwere Arbeit, weißt du. Er muss zwei Morde aufklären und hat keine Verdächtigen.«
»Warum sollte jemand diesen Frauen wehtun?«, fragte Wallace arglos.
Genny drückte seine Schulter. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass in diesen Todesfällen viel Böses mitspielt.«
»Könntest du nicht eine deiner Visionen haben und sehen, wer der Mörder ist?«
Genny seufzte. »Ich wünschte, es wäre so einfach.« Sie spülte das Geschirr ab und räumte es in die Spülmaschine. »Ich kann meine Visionen nicht steuern.«
Wallace tätschelte ihr den Rücken. »Schon gut. Nicht deine Schuld, dass du nicht sehen kannst, wer der Mörder ist. Melva Mae hat immer gesagt, ihre Visionen seien eher ein Fluch als ein Segen.«
»Da hat Granny recht gehabt.« Genny hatte die Spülmaschine gefüllt, gab Reinigungsmittel hinzu und schloss die Tür. »Komm. Heute müssen wir die Kräuter verschicken. Wir packen sie fertig, und du kannst sie auf dem Heimweg zur Versandstelle in der Stadt bringen.«
»Ich dachte, du wolltest zuerst nach dem Trockenschuppen sehen«, sagte Wallace. »Kommt Miss Sally nicht nachher vorbei, um beim Verpacken zu helfen?«
»Stimmt«, erwiderte Genny. »Geh schon mal voraus und bereite die Kartons im Packraum vor, während ich nach dem Trockenschuppen sehe. Aber wir werden nicht auf Sally warten. Kann gut sein, dass sie jetzt gleich aufkreuzt, oder gar nicht. Du kennst sie ja.«
Wallace kicherte. »Ich finde Miss Sally lustig. Sie bringt mich zum Lachen.«
»Du hast recht. Sie kann zum Schreien komisch sein.«
Genny wusch sich die Hände und trocknete sie ab. Dann ging sie zur hinteren Veranda. Drudwyn, der friedlich neben der Fliegentür geschlafen hatte, hob den Kopf und schaute zu Genny auf.
»Komm mit, mein Junge, wenn du rausgehen und eine Weile herumlaufen willst.«
Sobald sie die Fliegentür öffnete, schoss Drudwyn hinaus. Die Sonne stand hoch oben wie ein glänzender, gelbroter Ball. Der Wetterbericht sagte eine leichte Erwärmung voraus, mit Höchsttemperaturen um die neun Grad. Der Schnee war gestern um mehr als die Hälfte geschmolzen, überall waren weiße Flecken verstreut. Genny nahm ihren schweren Mantel vom Haken auf der hinteren Veranda und zog ihre Handschuhe und
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