Bevor Alles Verschwindet
nah, wenn sie vor Jules stand, dann war es, als stünde sie vor einem alten Spiegel, sie sah ihn nur verzerrt, sie sah niemals richtig hin, weil sie dachte, er sei wie sie und sie sei wie er. Aber so war es nicht, niemals, und jetzt sieht sie ihn plötzlich, versteht, dass er fern ist und fremd. Da ist nur noch ein kleiner Bruder mit absurden Ideen in den Augen und einem gesenkten Kinn. Jula klammert den Blick an die alte Narbe, da hat sie ihn früher mit der Schere verletzt beim Musketierspielen, David hat auf sie aufgepasst an dem Tag und die Schere zu spät entdeckt, Jula hat lauter geheult als Jules, immer schon: zu viel Nähe und ein Leben als Teil eines großen Gemeinsam. Sie hat immer gedacht, eine Trennung von ihm würde ihr Ende bedeuten. Dass sie umfallen würde, weil ihr nur ein Bein bliebe, nur ein Ohr und kein Gleichgewichtssinn. Sie steht noch, sie hat sich getrennt, und sie steht noch.
»Komm mal her«, sagt sie, auch wenn das nicht zu der Trennung passt. Jules zögert, er versucht ja, wütend zu sein. Es gelingt ihm nicht, er hat sie zu sehr vermisst in den letzten Wochen, in denen er immer nur ahnte, wo sie umherstrich, und selbst zu stolz war, ihr nachzuspionieren. Jules macht einen kleinen Schritt auf sie zu, Jula spürt seinen Atem. Alle gucken, natürlich gucken sie her. Jula mit Jules, so dicht bei
einander, das ist einen Blick wert. Von ihrer Zigarette ist nur noch ein Stummel übrig, Jula zieht daran, drückt ihn Jules an die Lippen, er zieht, die Zigarette verglüht und Jules hustet.
»Was ist?«, fragt er leise. Er weiß wirklich nicht, was sie nun tun wird, er kann sich nicht mehr in sie hineindenken.
»Noch näher«, sagt Jula und: »ganz nah.« Ihre Nasen berühren sich, die Umwelt wittert einen Skandal und die Bestätigung dessen, was sie schon lange vermuten, und da haben sie es.
Jemand sagt »O Gott«. Ein anderer macht ein Foto, in diesen letzten Tagen hat immer irgendwer eine Kamera griffbereit, kein Moment vollzieht sich unbeobachtet und schon gar nicht auf einem solchen endzeitlichen Fest. Die Welt ist angekommen, die interessierte Außenwelt möchte den Untergang dokumentieren, dieses Bild wird seine Runde unter Unbekannten machen, draußen im Netz. Sie küssen sich, der Junge und das Mädchen, das heißt, Jula küsst Jules. Das geht nicht, das geht so nicht, selbstverständlich ist das nicht legal, es sieht aus wie das Vexierbild mit dem Brunnen und den zwei Gesichtern, und Clara macht einen Schritt auf die Zwillinge zu. Sie will etwas sagen, sagt dann aber nichts, sie kommt diesem Tag nicht mehr hinterher. Clara hält den Mund und senkt den Blick, all die Bewohner stehen wie auf einer Beerdigung. In ein paar Tagen werden sie sich erinnern und verstehen, dass es tatsächlich eine Art Beerdigung war, eine vorweggenommene in Anwesenheit des Verstorbenen. Aber jetzt noch nicht, jetzt ist das Geschehen nur ein Schatten, gegen den Strich gebürstet und gegen die Zeit. Der Kuss dauert einmal Hüpfen von Greta und zweimal Hüpfen von Marie, der Kuss dauert einen kräftigen Schluck Bier von Eleni, und Wacho verschluckt sich in dieser Zeit, der Kuss dauert ein Blinzeln von Milo, er dauert so lange, wie der kopflose Löwe gähnt, einen Schlag gegen die Wand lang oben in Davids Zimmer,
der Kuss dauert so lange, wie die Zwillinge noch beieinander sind, einmal sind sie noch eins. Dann tritt Jules zurück, er ist verwirrt, als wäre er gerade aufgewacht. Er fragt trotzdem nicht nach, was das eben war.
»Es tut mir leid«, sagt sie und: »Dass es so ist.« Jules nickt, er steckt die Hand zurück in die Tasche, drückt wieder den Plan.
»Lass es«, sagt Jula leise. »Vergiss, was ich gesagt habe, Jules. Das ist lange her, seitdem ist alles anders und ich glaube, man kann sich abfinden damit.« Sie sieht ihn prüfend an, sucht nach Abweichungen, die ihr Sorgen machen sollten. Sie findet nichts. »Gut«, sagt sie. »Dann ist gut.« Jules nickt, dann geht er wieder in Richtung der Treppe und ins Haus hinein. Sie wundert sich nicht, aber sie hat gehofft, er würde mitfeiern und dass sie sich einen Abend lang wie normale Achtzehnjährige benehmen könnten, viel zu viel trinken würden und Erinnerungsfotos machen, auf denen von beiden nur der Haaransatz zu erkennen wäre und das große Stück Himmel darüber später der Raum für die großartigsten Erinnerungen. Kein Foto, kein Bier, kein Tanz heute Nacht, zumindest nicht mit Jules. Jula schnappt sich Marie, die mit einem Mal ganz dicht neben
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