Bevor der Abend kommt
eine Leiche gefunden«, sagte er langsam. »Wir möchten, dass Sie mit uns kommen.«
23
Die regionale Behörde des obersten Leichenbeschauers der Provinz Ontario ist in der Greenville Street 26 untergebracht, an der Ecke Yonge Street neben dem großen Gebäude der Credit Union Bank in der Nähe der Innenstadt von Toronto. Es ist ein gedrungener, zweistöckiger Bau aus braunem Stuck und Glas, der es schafft, gleichzeitig nichts sagend und bedrohlich zu wirken. Ein gigantisches, von der Regierung betriebenes Beerdigungsinstitut, dachte Cindy unwillkürlich, als der Streifenwagen auf dem angrenzenden Parkplatz hielt. Und genau das war das verdammte Ding auch, dachte sie weiter und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in ihrem Körper brodelte wie kochendes Wasser in einem Kessel.
Du musst ruhig bleiben, ermahnte sie sich und kratzte sich schmerzhaft die Arme; ihre Haut schien in Flammen zu stehen, als hätte sie einen brennenden Pullover übergestreift. Sie wollte sich aus dem Wagen stürzen, alle Kleider vom Leibe reißen, wildfremde Menschen anfallen und ihnen hysterisch ins Gesicht lachen, bis sie heiser wurde, doch sie konnte nichts von all dem tun, weil Tom ihr erklären würde, dass sie sich unangemessen verhielt. Und er würde selbstverständlich Recht haben. Er hatte immer Recht. Sie benahm sich unangemessen. Sie brüllte, wenn ein Flüstern genügt hätte, lachte, wo andere weinten, und schlug um sich, während sie sich nach nichts mehr sehnte als dem Trost fremder Arme.
Wie schaffte Tom es, so konzentriert und kontrolliert zu bleiben, fragte sich Cindy und blickte zu ihrem Ex-Mann, der
neben ihr auf der Rückbank des Polizeiwagens saß und aus dem Fenster starrte. Wie kam es, dass er nie die Fassung verlor, dass er selbst angesichts des Verlusts seiner Tochter so stoisch und kühl blieb?
War diese Haltung möglicherweise nur aufgesetzt? Wartete unter der täuschend ruhigen Oberfläche ein brodelnder Geysir auf seinen Ausbruch? War er hinter den wohlfeilen Phrasen, dem gönnerhaften Nicken und der enervierenden Reserviertheit vielleicht genauso panisch wie sie?
»Weißt du noch, wie viel Julia als kleines Mädchen geredet hat?«, fragte Cindy Tom, der sie entweder nicht hörte oder beschlossen hatte, die Frage zu ignorieren. »Man konnte sie einfach nicht zum Schweigen bringen«, fuhr Cindy unbeirrt fort. »Sobald sie morgens die Augen aufgeschlagen hatte, fing sie an zu reden und hörte erst wieder auf, wenn sie die Augen abends wieder zumachte. Manchmal hat sie sogar im Schlaf geredet. Es war so süß. Weißt du noch, Tom?«
Toms Schultern versteiften sich. »Cindy …«
»Man hat immer darauf gewartet, dass sie mal Luft holt, damit man einen Satz dazwischen bekam, aber sie redete ununterbrochen. Man dachte, irgendwann muss sie doch mal Luft schnappen, aber sie sauste von einem Thema zu nächsten. Stimmt doch, oder, Tom?«
Tom wandte langsam den Kopf in ihre Richtung. »Cindy …«
»Und man wagte es nicht, sie zu unterbrechen«, fuhr Cindy fort und musste selbst über die Erinnerung lachen. »Denn sonst fing sie noch einmal ganz von vorne an. Und man musste sich alles noch mal anhören, bis sie wieder an der Stelle war, wo man sie unterbrochen hatte, und dann warf sie einem diesen kleinen Blick zu. Erinnerst du dich an den Blick, Tom? Du hast immer gesagt, damit könnte sie auch Glas durchschneiden.«
»Cindy …«
» Was ?«, fauchte Cindy, die plötzlich begriff, wie Julia sich
gefühlt haben musste, wenn man sie unterbrach. Warum hatte sie sie immer unterbrochen? Warum hatte sie sie nicht einfach reden lassen?
»Ich denke, wir sollten jetzt reingehen«, sagte Tom leise.
»Warum? Wozu die Eile? Will sie später noch weg?« Cindy bemerkte den Gesichtsausdruck ihres Mannes. »Oh. Tut mir Leid. War das unangemessen?«
»Alles in Ordnung, Mrs. Carver?«, fragte Detective Gill vom Vordersitz.
»Mir geht es gut«, erklärte Cindy ihm. »Ich meine, warum auch nicht? Wir sind ja bloß hier, um die Leiche meiner Tochter zu identifizieren, richtig? Nichts, worüber man sich aufregen müsste.«
»Mrs. Carver …«, sagte Detective Bartolli.
»Sie wollte schon immer Schauspielerin werden«, erklärte Cindy den beiden Detectives, um die Zeit im Wagen zu dehnen und das Unvermeidliche aufzuschieben. »Sie ist in meinen Stöckelschuhen und Nachthemden durchs ganze Haus stolziert wie eine Märchenprinzessin – Sie hätten sie sehen sollen -, und sie hat sich niedliche kleine Theaterstücke
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