Bevor der Abend kommt
Mann im Gehen.
Cindys Blicke folgten ihm. Wusste er etwas über das Verschwinden ihrer Tochter? Er lebte offensichtlich in der Nachbarschaft und hatte Julia wahrscheinlich schon einmal auf der Straße gesehen. Er war bis zur Pingeligkeit korrekt gekleidet, nichts sagend schick, unnötig höflich. Im mittleren Alter, voller verdrängter Komplexe. Wahrscheinlich wohnte er allein oder noch bei seiner Mutter. Genau der Typ, über den man immer las, die Stillen mit einem Lächeln auf den Lippen und Chaos im Herzen.
Männer wie ihn gab es überall, dachte Cindy, als sie ihre Münzen in den Schlitz warf und die Zeitung aus dem Kasten zog. Sie konnte keinen Mann mehr ansehen, ohne sich zu fragen, ob er etwas über Julia wusste, ob er sie gesehen, mit ihr gesprochen oder geplant hatte, ihr wehzutun. Jeder Fremde war ein potenzieller Teufel, jeder Freund ein potenzieller Feind. Wie gut kannten wir irgendjemanden wirklich?
Wie gut kannten wir uns selbst?
Cindys Gedanken wanderten zu Neil und den Ereignissen von Samstagabend. Wieder spürte sie seine Arme um sich, seine Lippen auf ihren, seine Hände in ihren Haaren, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen. Sie spürte, wie er sich in ihr bewegte, und auch jetzt noch fühlte es sich wundervoll an. Sich so komplett im Augenblick zu verlieren, für eine kurze Zeitspanne
zu vergessen, was sie vielleicht schon verloren hatte. Und dann die Pfoten des Hundes auf ihren Schenkeln, der unbezahlbare Gesichtsausdruck ihrer Mutter und ihrer Schwester, und das beruhigende Lächeln in Neils Blick, als er ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Der Herr hat’s gegeben, dachte sie unwillkürlich, als sie auf das Bild ihrer Tochter auf der Tageszeitung starrte und zu begreifen versuchte, was sie sah.
Und der Herr hat’s genommen.
Weitere Fotos S. 3.
Cindy blätterte die Zeitung auf und hielt die Luft an, als sie zwei weitere vertraute Bilder sah – eins von Julia in einem Push-up-BH und passendem String und eine Aufnahme im Profil, auf der sich ihr Ellenbogen an die Rundung ihrer nackten Brust drückte und ihre nackten Pobacken mit der Kamera Guck-Guck spielten.
Wie war die Sun an diese Bilder gekommen? War es möglich, dass Sean Kopien hatte oder die Negative an das Boulevardblatt verkauft hatte? Sie stopfte weitere Münzen in den Schlitz, nahm die übrigen Zeitungen aus dem Kasten und rannte mit dem Stapel die Straße hinunter, als sie spürte, dass sie mit ihren Sandalen in etwas Glitschiges trat. »Oh Scheiße!«, rief sie, weil sie genau wusste, wohin sie getreten war, und kam schlitternd zum Stehen. »Das geschieht mir recht«, brüllte sie. »Das geschieht mir verdammt recht.« Sie riss sich die Sandale, deren Unterseite mit Hundekacke verschmiert war, vom Fuß und schleuderte sie wütend auf die Straße.
»Wo ist deine andere Sandale?«, fragte ihre Mutter, als Cindy einige Minuten später mit nur einem Schuh in die Küche gehumpelt kam.
Cindy winkte ab, breitete die Zeitung auf dem Küchentisch aus, ging zum Telefon und fragte die Auskunft nach der Nummer der Toronto Sun .
»Oh je«, flüsterte ihre Mutter und starrte auf die Fotos. Und dann noch einmal: »Oh je.«
»Ich möchte Frank Landau sprechen«, sagte Cindy, den Namen unter dem Artikel lesend, der die gewagten Fotos ihrer Tochter begleitete.
»Hier ist Frank Landau«, meldete sich der Mann Sekunden später.
»Woher haben Sie diese Fotos meiner Tochter?«
»Pardon?«
»Die Fotos von Julia Carver. Woher haben Sie die?«
»Mrs. Carver?«
»Ich werde Ihre verdammte Zeitung verklagen. Ich werde Sie persönlich verklagen …«
»Mrs. Carver, warten Sie. Einen Moment. Beruhigen Sie sich doch bitte.«
»Sagen Sie mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Sagen Sie mir einfach, woher Sie diese Fotos haben.«
Es entstand eine lange Pause. Als der Journalist schließlich antwortete, wusste Cindy bereits, was er sagen würde. »Ich habe Sie von Ihrem Ex-Mann«, erklärte er ruhig. »Tom Carver hat sie mir gestern Nachmittag persönlich vorbeigebracht.«
»Wo ist er?«, wollte Cindy wissen, als sie um kurz nach eins in das Vorzimmer von Toms Büro stürmte.
Irena Ruskin sprang hinter ihrem angemessen vollen Schreibtisch auf. »Er ist nicht hier. Warten Sie«, rief sie und eilte Cindy nach, die Toms Büro ansteuerte. »Mrs. Carver! Cindy!«
Cindy fuhr herum und musterte die treue Sekretärin mit einem Blick. Ihr Haar hatte nach wie vor einen undezenten Blondton, auch wenn sie es inzwischen ein paar Zentimeter
Weitere Kostenlose Bücher