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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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und Hautverfärbung oder selbst vormals gutartige Wörter wie zahnärztliche Unterlagen oder Haarbürste anhören musste.
    Mark Evert griff zögernd nach der Klinke. »Sind Sie sicher, dass Sie bereit sind?«
    Cindy staunte über die Frage. Wie konnte man für etwas Derartiges überhaupt je bereit sein? »Ich bin so weit«, sagte sie und spürte, wie Toms Finger sich in ihre gruben, als die Tür geöffnet wurde und sie die Leichenhalle betraten.
    Es sah aus wie ein riesiger Operationssaal. Cindys Blick zuckte von den cremefarbenen Kacheln an der Wand zu den
dunkleren Bodenfliesen. In der Mitte stand ein die gesamte Breite des Raumes einnehmender, großer, mindestens drei Meter hoher Stahlkühlschrank mit Fächern auf drei Etagen. Cindy dachte schaudernd, dass darin hunderte von Leichen liegen mussten. Sie fragte sich, wie das Personal sie aus den Schließfächern holte, ohne sich den Rücken zu verheben, bis sie zuletzt zögernd den schmalen Tisch direkt vor ihr wahrnahm, auf dessen glatter Oberfläche ein Leichensack aus weißem Plastik ausgebreitet war.
    »Das ist Dr. Jong, der Gerichtsmediziner«, stellte Mark Evert einen beunruhigend jungen Mann vor, der sich alle Mühe gab, unsichtbar zu erscheinen, und nur mit einem kaum merklichen Kopfnicken reagierte.
    Er ist hier, um sie aufzuschneiden, begriff Cindy, und unvermittelt erfüllte ein lautes Summen ihre Ohren, als ob darin tausend Bienen gefangen wären.
    »Denken Sie daran«, sagte Mark Evert, »Sie müssen sich hundert Prozent sicher sein.«
    Cindy wandte sich zu Tom. »Weißt du noch, wie Julia klein war und mit dem neuen Fahrrad angeben wollte, das du ihr geschenkt hast, und sie ist gestürzt und hat sich beide Arme gebrochen?«
    »Ich erinnere mich«, sagte Tom und drückte ihre Hände fester.
    »Und ich bin ins Krankenhaus gerast, und wir mussten natürlich stundenlang warten, bis sich irgendjemand um uns gekümmert hat, und sie hat ständig gefragt: ›Warum hat Gott mich nicht lieb? Warum hat er mich nicht lieb?‹ Und ich habe ihr gesagt: ›Sei nicht albern. Natürlich hat Gott dich lieb. Ganz bestimmt.‹ Aber sie war nicht davon abzubringen. ›Nein, er hat mich nicht lieb, sonst hätte er mir nicht die Arme gebrochen.‹ Und später haben wir darüber gelacht. Weißt du noch, wie wir später darüber gelacht haben?«
    »Ich erinnere mich«, sagte Tom noch einmal.

    »Und mit beiden Armen in Gips konnte sie zuerst nicht alleine essen oder aufs Klo gehen.«
    »Es hat aber nicht lange gedauert, bis sie den Bogen raushatte.«
    »Und es war ihr peinlich, zur Schule zu gehen.«
    »Die Lehrer dachten wahrscheinlich, sie wäre misshandelt worden.«
    »Und dann hast du diese Rock-Band geholt, die du damals vertreten hast – wie hießen sie noch?«
    »Rush.«
    »Ja, Rush. Jetzt fällt es mir wieder ein. So nette Jungs. Sie haben alle auf ihren Gips geschrieben. Und dann konnte sie es kaum erwarten, zur Schule zu gehen, um ihn allen zu zeigen. Und als der Gips dann wieder ab sollte, hat sie ein Riesentheater gemacht und geweint.«
    »Wir mussten die miefigen Dinger jahrelang aufbewahren.«
    »Ich weiß noch, wie Julia bewusstlos geworden ist, als ihr der Gips abgenommen wurde, und der Arzt, der auf der anderen Seite des Zimmers stand, ist herbeigeeilt und hat sie aufgefangen, bevor sie von dem OP-Tisch fallen konnte. Sie hätte sich auf dem Fußboden den Kopf aufschlagen können. Und ich stand direkt neben ihr und hab nicht kapiert, was los war.«
    »Cindy«, sagte Tom sanft. »Tu das nicht.«
    »Wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre sie nie vom Fahrrad gefallen.«
    »Es fallen jeden Tag irgendwelche Kinder von ihren Fahrrädern.«
    »Wenn ich achtsamer gewesen wäre …«
    »Mrs. Carver«, sagte der Mitarbeiter des Instituts leise. »Meinen Sie, dass Sie jetzt bereit sind?«
    »Glaubst du, sie hatte ein Ahnung, wie sehr ich sie geliebt habe?«, fragte Cindy ihren früheren Mann, und Tränen schossen ihr in die Augen und kullerten über ihre Wangen.

    »Das weiß sie«, sagte Tom.
    »Ich habe sie angeschrien. Am Morgen vor ihrem Casting. Ich habe sie wegen des Hundes angeschrien und weil sie mit der Faust gegen die Badezimmertür gehämmert hat. Ich habe darauf bestanden, dass sie am Nachmittag zu der Anprobe für das Brautjungfernkleid kommt, obwohl ich wusste, dass sie nicht wollte.«
    »Das ist nicht passiert, weil du sie angeschrien hast.«
    »Und was ist, wenn sie auf dem Weg zu der Anprobe entführt worden ist? Was, wenn derjenige, der ihr das

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