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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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ausgedacht und alle Rollen gespielt. Sie hat gesungen und getanzt. Sie war wirklich sehr gut. Nicht wahr, Tom?«
    »Cindy …«
    »Ich erinnere mich an einen Tag, als Julia vielleicht vier war. Ich war mit Heather beschäftigt, und Julia hat mit ihren Barbie-Puppen gespielt – sie hatte mindestens fünfzig davon -, und plötzlich fiel mir auf, dass es in Julias Zimmer verdächtig still war. Also habe ich Heather in ihre Wiege gelegt und nachgesehen, was los war. Und Julia stand nackt mitten in ihrem Zimmer, umringt vor all ihren Barbies, die sie in einem lockeren Halbkreis arrangiert hatte, hielt einen Bleistift hoch und sagte: ›Und jetzt, liebes Publikum, werden wir meine Vagina operieren. ‹« Cindy lachte laut.
    »Cindy, Herrgott noch mal«, sagte Tom.

    Das Lächeln rutschte aus Cindys Gesicht wie von einem rauen Schleifmittel abgekratzt. »Was? Unangemessen?«
    »Mrs. Carver«, sagte Detective Bartolli leise. »Vielleicht sollte Detective Gill Sie besser nach Hause bringen. Mr. Carver kann die Identifizierung vornehmen.«
    »Nein!«, sagte Cindy rasch. »Mir geht es gut.«
    »Dir geht es nicht gut«, sagte Tom.
    »Auf keinen Fall gehst du ohne mich in diesen Raum.«
    »Cindy …«
    »Sie ist auch meine Tochter.«
    »Das bestreitet doch niemand.«
    »Wir verstehen, wie schwierig das für Sie ist«, sagte Detective Gill.
    »Dann verstehen Sie sicher auch, dass Sie mich durch nichts davon abhalten können.«
    »Mrs. Carver«, fuhr Detective Bartolli fort, »es ist sehr wichtig, dass Sie ruhig bleiben, wenn Sie hineingehen.«
    »Warum?«, fragte Cindy ernsthaft neugierig. »Haben Sie Angst, dass ich die anderen Leichen störe?«
    »Okay, das reicht«, sagte Tom. »Meine Frau ist offensichtlich hysterisch.«
    »Ich bin nicht deine Frau«, erinnerte Cindy ihn knapp.
    »Aber hysterisch bist du.«
    »Mir geht es gut«, versicherte Cindy den beiden Detectives. »Ich schaffe das schon. Ich verspreche es.« Ich werde ein braves Mädchen sein, beteuerte das Kind in ihr, während sie die Schultern straffte und tief einatmete, fest entschlossen zu beweisen, dass sie genauso vernünftig und erwachsen sein konnte wie die anderen. Ich werde kühl sein wie eine Hundeschnauze, entschied sie und fragte sich, woher diese Redensart kam? Wieso eine Hundeschnauze? Warum nicht »kühl wie eine Kaulquappe« oder »kühl wie ein Krokodil«? Oder wie wär’s mit »kühl wie eine Leiche«?
    Das wäre mal angemessen, dachte sie und hätte beinahe gelacht,
als sie die Wagentür öffnete und sich die für die Jahreszeit zu heiße Septemberluft um ihren Kopf legte wie ein in sich zusammensackender Fallschirm. Solche Gedanken behielt sie besser für sich, beschloss sie. Noch ein weiterer Ausbruch, und man würde sie nicht mal ins Gebäude lassen, von dem Leichenschauraum ganz zu schweigen. Man würde sie ihre Tochter nicht sehen lassen. Oder das, was von ihr übrig war. »Oh Gott«, sagte sie laut und versuchte, das Bild einer zerschundenen und leblos auf einer kalten Stahlplatte liegenden Julia zu verdrängen.
    Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und ihre Beine nachgaben, als hätte sie jemand von hinten getreten. Die Realität, die sie so angestrengt in Schach zu halten versucht hatte, wurde übermächtig, drückte sie zu Boden und zerriss ihren Körper wie ein Vergewaltiger.
    »Cindy«, sagte Tom und fasste ihren Ellbogen, bevor sie zusammenbrechen konnte.
    »Alles in Ordnung«, erklärte sie ihm, fing sich wieder und setzte zögernd einen Fuß vor den anderen.
    »Mrs. Carver?«
    »Alles bestens.«
    Sie gingen langsam zum Vordereingang des Gebäudes. Detective Gill eilte voraus, um die schwere Glastür aufzuhalten. Cindy betrat die Empfangshalle, ein kalter und nüchterner Raum, wie er für viele Regierungsgebäude typisch war. Detective Bartolli meldete sie am Empfang bei einem Mann mittleren Alters und glänzender Glatze an, bevor er die kleine Gruppe eilig zu einem Raum rechts von der Eingangshalle führte.
    »Was ist dort drinnen?«, fragte Cindy und zögerte, als sie die Tür erreichten.
    »Es ist bloß ein Raum«, versicherte Detective Gill ihr, als sie über die Schwelle traten.
    »Das ist Mark Evert«, stellte Detective Bartolli den erstaunlich
robust aussehenden Mitarbeiter des Leichenschauhauses vor, der sie drinnen erwartete.
    »Mr. Evert«, sagte Tom und schüttelte dem Mann die Hand.
    »Was ist das, eine Art Trauerzimmer?«, fragte Cindy.
    »Wir nennen es das Trostzimmer«, erwiderte Mark Evert.
    »Wirklich? Und welchen

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