Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
Trost bieten Sie hier im Einzelnen an?«
    Mark Evert lächelte traurig, als verstünde er ihren Schmerz. »Wenn Sie Platz nehmen wollen …« Er wies auf eine Sitzgruppe aus frisch aufgearbeiteten Stühlen und einem Sofa. »Und dort ist die Toilette, wenn Sie sich …«
    »Frisch machen wollen?«, fragte Cindy.
    »Cindy …«, warnte Toms Stimme irgendwo hinter ihr.
    Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um, dessen gedämpfte Beleuchtung wohl beruhigend wirken sollte, und atmete den frischen Holzgeruch ein, der die kühle Luft erfüllte. »Ich glaube, ich würde tatsächlich gerne Ihre Toilette benutzen«, sagte sie, verschwand in dem winzigen Raum und schloss die Tür hinter sich ab. Sie drehte den Hahn auf und benetzte ihr Gesicht vorsichtig mit Wasser. »Ganz ruhig bleiben«, flüsterte sie ihrem Bild in dem Spiegel über dem Waschbecken zu. Das Gesicht im Spiegel starrte mit hoffnungslos benommenem Blick zurück.
    Cindy bemerkte die grünlich gelbe Tönung der Wangen der Frau, die dunklen Ringe unter ihren Augen, die sich wellenartig auszubreiten schienen wie in einem stillen See, in den jemand einen Stein geworfen hatte. Du schaffst es, mahnte ihr Spiegelbild stumm. Du schaffst das.
    »Nein«, sagte Cindy laut. »Ich kann das nicht.«
    Es klopfte leise an der Tür. »Cindy?«, rief Tom. »Alles in Ordnung da drinnen?«
    Hier drinnen ist alles in Ordnung, wollte sie antworten. Dort draußen liegt das Problem. Stattdessen sagte sie: »Ich bin sofort fertig.« Sie atmete tief ein, ging zur Tür, blieb stehen,
ging zurück zur Toilette, betätigte die Spülung und sah zu, wie das Wasser ziellos in der Schüssel kreiste, bevor es in den Abfluss gesaugt wurde. Weg. Einfach so. »Okay«, sagte sie, als sie in das so genannte Trostzimmer zurückkam und bemerkte, wie still es war. Das meinte man also, wenn man von »Totenstille« sprach, dachte sie und wusste, dass es unangemessen wäre, eine derartige Bemerkung laut zu äußern. »Was geschieht jetzt?«
    »Wir gehen hinein.« Mark Evert wies auf eine Tür direkt hinter sich. »Wir werden Ihnen die Leiche einer jungen Frau zeigen. Sie wurde erwürgt.«
    Cindy atmete scharf ein, griff automatisch nach Toms Hand und spürte, wie sich seine Finger um ihre schlossen.
    »Ich dachte, für so etwas hätten Sie Video-Anlagen«, sagte Tom, während sein ganzer Körper so steif wurde wie seine Stimme.
    Der Mitarbeiter der Leichenhalle nickte. »So ist es, und normalerweise nehmen wir eine Identifikation auch lieber so vor, vor allem bei schweren Gesichtsverletzungen …«
    »Sie hat schwere Gesichtsverletzungen erlitten?«, wiederholte Cindy, bemüht, die Worte des Mannes zu begreifen.
    »Diverse Blutergüsse sowie Schwellungen und Hautverfärbungen.«
    »Oh nein.«
    »Und Sie können uns nicht einfach ein Foto zeigen?«, drängte Tom.
    »Diese Möglichkeit besteht in Mordfällen leider nicht. Wir benötigen eine persönliche Identifikation.«
    »Aber im Fernsehen stehen die Leute doch meistens hinter einem Fenster oder so.«
    »Das Verfahren ist je nach Gerichtsbarkeit unterschiedlich«, erklärte Mark Evert geduldig. »Wenn Sie noch ein paar Minuten brauchen, Mr. Carver …«
    »Alles in Ordnung?«, fragte Cindy ihren Ex-Mann, überrascht, dass sie unvermittelt die Rollen getauscht hatten.

    »Sagen Sie uns einfach, was uns erwartet«, sagte Tom gepresst.
    »Die junge Frau, die Sie sehen werden, ist irgendwann in den letzten 48 Stunden erwürgt worden. Wir haben noch keine Autopsie vorgenommen, um den genauen Zeitpunkt ihres Todes festzustellen, doch die Verwesung hat bereits begonnen …«
    »Verwesung?« Das schreckliche Wort traf Cindys Ohren wie ein Eispickel, der ihr ins Gehirn gerammt wurde.
    »Wir versuchen, Ihnen zu ersparen, was wir können. Aber ich fürchte, wir dürfen die Leiche in keiner Weise säubern.«
    »Gibt es viel Blut?«, fragte Tom.
    »Nein.«
    Ein ausgedehnter Seufzer entwich Cindys Lippen.
    »Sie werden aufgefordert, die Leiche in Anwesenheit der beiden Detectives, meiner Person und des Gerichtsmediziners formell zu identifizieren.«
    »Und was ist, wenn wir uns nicht sicher sind?«, fragte Tom.
    Cindy stöhnte auf, weil die Vorstellung, ihr eigenes Kind nicht erkennen zu können, beinahe zu viel für sie war.
    »Dann bitten wie Sie um Julias zahnärztliche Unterlagen oder eine Haarbürste …«
    »Können wir jetzt reingehen?«, unterbrach Cindy ihn, weil sie wusste, dass sie wahnsinnig werden würde, wenn sie sich weitere bösartige Wörter wie Verwesung

Weitere Kostenlose Bücher