Bevor der Abend kommt
angetan hat, beobachtet hat, wie sie in die U-Bahn gestiegen ist, und ihr gefolgt ist?«
»Cindy …«
»Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Du bist eine tolle Mutter, Cindy«, erklärte Tom ihr.
»Sie muss solche Angst gehabt haben.«
»Mrs. Carver«, setzte Detective Bartolli an, ließ es dann aber doch.
Cindy wandte sich an den jugendlich wirkenden Gerichtsmediziner. »Wie lange dauert es, jemanden zu erwürgen?«
»Cindy …«
»Bitte, Mr. Jong. Sagen Sie mir, wie lange es dauert, jemanden zu erwürgen.«
»Ungefähr zwei Minuten«, antwortete der Arzt.
»Zwei Minuten«, wiederholte Cindy. »So lange.« Das Summen in ihren Ohren wurde lauter.
»Wir stehen das durch«, glaubte sie Tom sagen zu hören.
Wörter sprangen sie an, nur um sich gleich wieder zurückzuziehen.
»Sind … bereit … Mrs. …?«
Cindy fiel die Polizeimarke auf der Vorderseite des Leichensacks auf, als eine männliche Hand nach dem Reißverschluss griff. Das Geräusch beim Öffnen schnitt wie eine Kettensäge durch einen Holzscheit in ihren Ohren, wobei beide Geräusche
sich gegenseitig verstärkten, bis Cindy das Gefühl hatte, ihr Kopf müsse platzen.
Der Stoff wurde zurückgeklappt, und ein Kopf tauchte auf wie aus einer Gebärmutter. Cindy sah das glatte blonde Haar, das an der gespenstisch weißen Haut klebte, und versuchte, über die unansehnlichen violetten, blauen und roten Flecken hinwegzusehen, die die farblosen Wangen zierten wie Farbtupfer auf einer Leinwand.
Oh Gott, dachte sie und erkannte das einst anmutige Gesicht wieder.
Dann war der Raum mit einem Mal vom Gesumm der wütenden Bienen erfüllt, und Cindy sank bewusstlos zu Boden.
24
»Alles in Ordnung?«, fragte Tom.
Cindy öffnete die Augen, hob den Kopf von dem weichen beige und elfenbeinfarben gemusterten Seidenüberwurf auf dem Sofa und starrte den Mann an, der über ihr stand. »Ich weiß nicht.«
»Vielleicht hilft das.« Er drückte ihr ein Glas mit einer kalten Flüssigkeit in die Hand.
»Was ist das?«
»Wodka und Preiselbeersaft.«
Cindy richtete sich auf und trank einen großen Schluck. »Das ist gut.«
Tom setzte sich neben sie, legte seine langen Beine auf den Couchtisch aus Holz und Glas und seinen Kopf auf eines der Kissen. »Das war eine ziemliche Tortur.« Er beugte sich zu ihr und stieß mit ihr an. »Auf bessere Zeiten«, sagte er und leerte sein Glas mit einem Zug.
»Auf bessere Zeiten«, stimmte Cindy ihm zu und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink, in dem der Wodka die Säure der Beeren gleichzeitig betonte und abschwächte. Sie sah sich in dem teuer eingerichteten Zimmer um, Möbel in gedämpften Farben und helle Schlingenteppiche, dazu knallige moderne Kunst an naturfarbenen Wänden, eine Südfront mit Fenstern bis zum Boden und einem fantastischen Blick auf den Ontariosee. »Ziemlich beeindruckende Hütte hast du hier.«
»Du hast sie doch schon mal gesehen, oder nicht?«
»Das ist das erste Mal«, erinnerte sie ihn. »Es ist sehr schön. Ich wusste nicht, dass der Keks einen so guten Geschmack hat.«
»Der Keks?«, wiederholte Tom ehrlich verblüfft.
Cindy wurde unerwartet rot und wandte sich ab, um es zu verbergen. »Tut mir Leid. Fiona, meine ich.«
Ein Lächeln schlich sich auf Toms attraktives Gesicht. »Du nennst meine Frau ›der Keks‹?«
»Ein Kosename.« Cindy nippte erneut an ihrem Drink. »Was mache ich überhaupt hier?«
»Du bist ohnmächtig geworden, weißt du nicht mehr?«
»Ja. Das scheine ich in letzter Zeit häufiger zu tun. Aber dann bin ich wieder zu mir gekommen.«
»Und du hast gesagt, dass du die Vorstellung, nach Hause zu fahren, nicht ertragen könntest, weil deine Mutter und deine Schwester dich wahnsinnig machen.«
»Sie meinen es nur gut.«
»Ja«, erwiderte er kryptisch. »Ich erinnere mich.« »Also hast du mich in deine Wohnung gebracht«, stellte Cindy fest, ohne seiner Bemerkung nachzugehen, und wunderte sich über alles, was in der letzten Stunde geschehen war. »Wo ist der … Fiona?«, fragte sie und spitzte die Ohren, um das Klacken ihrer hohen Absätze auf dem Marmorfußboden zu hören.
»In Muskoka.«
»Sie ist in dem Wochenendhaus?«
»Wir haben beschlossen, dass es diese Woche wahrscheinlich besser ist, wenn sie dort bleibt, bei allem, was los ist, und wo jetzt noch Heather hier ist.«
Cindy blickte zu dem langen Flur, der einmal ganz durch die riesige Wohnung führte. »Ist Heather im College?«
»Ich glaube, sie hat gesagt, sie hätte Seminare bis
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