Bevor der Morgen graut
verbracht. Ich bin keineswegs stolz auf diesen Seitensprung, aber Rose und ich haben eine sehr freizügige Beziehung, und es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
Birkir hatte mit einem Auge die Bilderabfolge auf dem Computer mitverfolgt, und jetzt kam ein Bild, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Ein junges Mädchen, noch keine zwanzig, hatte die kleine Hjördís auf dem Rücken. Langes, dunkles, offenes Haar, ein fröhliches Lächeln im Gesicht, schiefe Zähne.
»Wer war das?«, fragte Birkir schnell und deutete auf den Schirm.
Als Hjördis hinschaute, war schon wieder ein neues Bild da.
»Die hier?«, fragte sie.
»Nein, auf dem Bild davor.«
Hjördís wandte sich dem Computer zu, stoppte die Abfolge und blätterte zurück.
»Die da«, sagte Birkir.
»Die da?«, fragte Hjördís. »Das ist Kolbrún. Sie war als Au-pair-Mädchen bei uns in Amerika, als ich zehn oder elf war.«
»Stammt sie aus dem Dalir-Bezirk?«, fragte Birkir.
»Genau.« Hjördís lächelte. »Sie war ein ziemliches Landei, als sie zu uns kam.«
»Hast du sie seitdem wiedergesehen?«
»Ja, vor kurzem. Sie arbeitet in einem Fischgeschäft, wo ich manchmal einkaufe. Dort gibt es gute und nicht sehr teure Fertiggerichte, die man bloß im Backofen oder in der Mikrowelle aufwärmen muss. Ich war in diesem Sommer zum ersten Mal dort und habe sie gleich erkannt. Sie mich auch.«
»Seitdem steht ihr in Verbindung?«
»Nein. Wir unterhalten uns manchmal im Fischladen, wenn nicht viel zu tun ist. Sie hat mir erzählt, wie das Leben ihr mitgespielt hat. Warum fragst du nach ihr?«
»Wir sind im Rahmen dieser Ermittlung auf sie gestoßen.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Eines der Opfer wurde in der Nähe des Hofes erschossen, auf dem ihr Vater lebt.«
»Oh, das wusste ich nicht. Die Ärmste.«
»Ihr habt also keine engere Verbindung?«
»Nee.«
Birkir war nicht überzeugt, dass sie die Wahrheit sagte.
15:45
G unnar, Magnús und Dóra saßen vor dem Computer, als Birkir ins Kommissariat zurückkehrte. Gunnar hatte den Telefonhörer am Ohr. »Da kommt nichts dabei raus«, sagte er.
»Wobei?«, fragte Birkir.
»Uns fehlt die Antwort auf die letzte Frage«, sagte Gunnar. »Die Zeit ist fast abgelaufen, und diese Helfershelfer von Emil haben die Lösung immer noch nicht gefunden.«
»Wie lautet die Frage?«
Dóra las vom Bildschirm ab: » In welchem Gedicht stehen folgende Worte – In trüben Tiefen ist schauerlich Toten … «
Gunnar fügte hinzu: »Die Suchmaschine findet das nicht, aber diese angeblichen Geistesgrößen auch nicht.«
»Lass mich mal sehen«, sagte Birkir und beugte sich über den Bildschirm.
Dóra deutete auf den Text.
»Da will man uns in die Irre führen«, sagte Birkir, »da fehlt nämlich das Ende des letzten Wortes, glaube ich. Da gehört ein zusammengesetztes Substantiv hin.«
»Die drei Punkte stehen also für das, was an diesem Wort fehlt?«, fragte Gunnar.
»Ja. Der Ganter will uns leimen. Er will verhindern, dass wir das im Internet finden.«
»Das ist ihm gelungen. Wir haben alles versucht.«
Eine Weile herrschte Schweigen, während Birkir auf den Text starrte. Dann sagte er auf einmal: »Versuch’s mal mit dieser Reihenfolge: Schauerlich ist in trüben Tiefen … «
Dóra tat, wie geheißen.
Auf dem Bildschirm erschien: Schauerlich ist in trüben Tiefen Totengeschrei.
Dóra las: »Gedichte von Jónas Hallgrímsson, Hölle.«
»›Totengeschrei‹, wie hast du das eigentlich geschafft?«, fragte Gunnar.
»Das war eins von den Gedichten, die mein alter Pflegevater Hinrik mir vorgetragen hat, um mir Isländisch beizubringen. Mir kam das irgendwie bekannt vor«, antwortete Birkir.
Gunnar schaute auf die Uhr. »Zehn Minuten noch.«
»Dieser verdammte Ganter treibt sein Spielchen mit uns«, sagte Birkir. »Wegen diesem Quatsch geht ein Teil unserer Kräfte dabei drauf, idiotische Rätselfragen zu lösen, anstatt uns auf die Suche nach ihm konzentrieren zu können.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Magnús. »Sollen wir aufhören zu antworten?«
Birkir zuckte die Achseln. »Der wird es schon irgendwann über haben, aber dann weiß leider niemand, was ihm als Nächstes einfällt.«
Dóra tippte die E-Mail: » Hölle, von Jónas Hallgrímsson«, und drückte anschließend auf Senden.
Es verging einige Zeit, aber dann erschien die Antwort: »Hut ab, ihr seid ja richtige Genies. Ich bewundere euch.«
Alle warteten auf eine Fortsetzung und starrten auf den Monitor.
»Und
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