Bevor der Morgen graut
sagte: »Der fette Bulle wieder
zur Stelle. Was willst du eigentlich von mir, verdammt nochmal?« Sie
trug Jeans und eine schwere schwarze Lederjacke und dazu hohe
Lederstiefel. Gunnar griff nach ihrem Arm. »Du hast mir gesagt, du
würdest abends in der Stadtbibliothek putzen. Bist du damit heute Abend
schon fertig?«»Ja, ich komme von dort«, antwortete
sie und schüttelte Gunnars Hand mit einer resoluten Handbewegung
ab. »Ich muss ein Buch ausleihen.« »Na, so was.« »Kannst du mich da
reinlassen?« »Jetzt?« »Ja.« »Bist du bescheuert?« »Es steht sehr
viel auf dem Spiel. Hast du die Schlüssel dabei?« »Ja, aber ich denke
nicht daran, dich reinzulassen, ich würde glatt gefeuert. Außerdem
habe ich nicht das geringste Interesse daran, mir deinetwegen jetzt noch
Stress zu machen. Ich hab den ganzen Tag geschuftet, seit heute Morgen
um acht.« »Ich tu dir im Gegenzug auch einen Gefallen.« »Was für
ein Gefallen könnte das schon sein?« »Vielleicht etwas im
Zusammenhang mit dem Hof deines Vaters. Ich kann mit dem
Nachlassverwalter reden und ihn dazu bringen, dir das Land zu
verkaufen.« »Glaubst du, dass du das schaffst?« »Ich kann es
versuchen. Manchmal kann ich sehr überzeugend sein.« Kolbrún
überlegte. »Nur ein Buch?«, fragte sie nach einer Weile. »Ja.«
»Hast du ein Auto?« »Nein, wir können zu Fuß gehen, es ist ja nicht
weit.« »Wir nehmen mein Motorrad. Es steht draußen vor der Tür.«
Gunnar verließ hinter ihr die Kneipe. Ein großes, altes Motorrad, eine
Harley Davidson, stand an der Straße. Ein weißer Helm war auf dem Sitz
befestigt. »Ich habe keinen zweiten Helm«, sagte sie, während sie denHelm aufsetzte. »Aber du hast ja ohnehin einen
Quadratschädel«, fügte sie hinzu. Sie schwang sich auf das Motorrad
und warf es an. Das laute Motorengeräusch klang
vertrauenerweckend. Gunnar setzte sich hinter Kolbrún und legte die
Hände an ihre Hüften. Das Motorrad sackte unter seinem Gewicht ein
gutes Stück weiter auf die Straße hinunter. Sie fuhr zügig an, und
Gunnar musste sich festklammern. Das Motorrad hatte einen starken Motor,
und die Fahrt zur Bibliothek dauerte nur etwas mehr als eine Minute. Sie
stoppte die Maschine auf dem Bürgersteig vor dem Haupteingang, und sie
stiegen ab. Kolbrún öffnete die Tür mit einem Schlüssel. Nachdem sie
die Alarmanlage mit einem Zahlencode entsichert hatte, öffnete sich die
innere Tür. Die schwache Notbeleuchtung in den Bibliotheksräumen
reichte aus, um sich zu orientieren. Sie gingen in den ersten Stock, wo
sich die Belletristik in isländischer Sprache befand, Chandler stand
zwischen Cervantes und Theresa Charles.Der große Schlaf war einer
von zwei Titeln des Autors, die im Regal standen. Gunnar schnappte sich
das Buch, ging dorthin, wo das beste Licht war, und schlug die letzte
Seite auf. Dort stand der Satz: Auf dem Weg in die Stadt hielt ich
bei einer Bar.
Er rief Dóra an und begann, ihr den vorletzten Abschnitt vorzulesen: »Was für eine Rolle spielte es, wo man lag, wenn man sowieso tot war? In einem dreckigen Sumpf oder in einem Marmorturm oben auf einem hohen Berg? Du warst tot, du schliefst den großen Schlaf …« Der Absatz war lang, fünfzehn Zeilen insgesamt, und er brauchte eine ganze Weile, bis er durch war. »Was soll dieses ganze Theater eigentlich?«, fragte Kolbrún, als Gunnar fertig war und das Gespräch beendet hatte. »Ich erklär’s dir später«, versprach Gunnar und stellte das Buch an seinen Platz zurück.»Kann ich mit dir zurückfahren?«, fragte er, als sie wieder draußen vor der Stadtbibliothek standen. »Nein, ich fahr jetzt nach Hause«, antwortete sie. »Du denkst daran, was du versprochen hast.« Gunnar nickte. »Noch eins«, sagte er, »kennst du eine Hjördís …« Er zögerte, weil er vergessen hatte, wie ihr Vater hieß. »Sie ist die Tochter eines Arztes, der in Boston war.« Kolbrún schien unschlüssig zu sein, ob sie auf diese Frage antworten sollte. Endlich sagte sie: »Ja, ich kenne eine Frau, die Hjördís heißt. Ich hab auf sie aufgepasst, als sie klein war. Ich war als Au-pair bei ihren Eltern.« »Habt ihr noch Kontakt?« Kolbrún nickte zögernd und sagte: »Wir quatschen manchmal ein bisschen im Fischgeschäft. Und sie hat ein paar Mal mein Motorrad ausgeliehen, und was sie mir dafür bezahlt, geht in die Reparaturkasse. Wieso fragst du nach ihr?« »Ich erklär’s dir später«,
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