Bevor der Morgen graut
Mündern an und lauschten ihm. Er hatte sich so in diese Wunschvorstellung hineingesteigert, dass er die Spannung loswerden musste, und das tat er, indem er sich seiner Frau Ingiríður anvertraute.
Sie waren seit fünf Jahren verheiratet, und Ingiríður hielt sehr wenig von Símons Beruf. Ihrer Meinung nach waren die Arbeitszeiten viel zu unregelmäßig und das Gehalt mies. Es war ihr schon immer auf die Nerven gegangen, wie wenig ihr Mann nach Hause brachte. Der Traum von der Fußballkarriere war eine einzige Enttäuschung gewesen und hatte finanziell gesehen ihre Erwartungen nie erfüllt. Kein Vergleich mit dem, was andere isländische Fußballer im Ausland verdienten, das wusste sie. Und in seinem jetzigen Job gehörte er nicht zum Insider-Kreis und war nie in etwas eingeweiht. Ein ums andere Mal berichtete ihre Zeitung über Schwerverbrecher, aber Símon wusste auch nicht mehr als sie über diese Fälle, obwohl er doch angeblich bei der Kripo war.
Aber jetzt hatte er endlich etwas zu berichten. Mit einem einzigen kurzen Gespräch war es ihm gelungen, den wahrscheinlichsten Verdächtigen mit noch einem Mord in Verbindung zu bringen. Er erklärte Ingiríður, was für eine Verbindung zwischen Hjördís, Leifur und Jóhann bestanden hatte und wie gespannt ihr Verhältnis zu Friðrik gewesen war. Und jetzt hatte also er persönlich die Querverbindung zu einem weiteren Opfer gefunden. Und außerdem war die Frau lesbisch.
Símon rollte die ganze Geschichte auf, während er aufgewärmten Fisch mit Zwiebeln und Kartoffeln aß, und anschließend ging er mit einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer, um sichauf dem Sofa auszustrecken und die Zehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen anzusehen.
Ingiríður räumte nach dem Essen in der Küche auf und dachte an die armen Hausgenossen dieses Weibsbilds auf dem Kleppsvegur. Sie war der Meinung, dass die Öffentlichkeit darüber informiert werden musste, wenn gefährliche Personen frei herumliefen. Das konnte womöglich ein Menschenleben retten, daran dachten viele gar nicht. Das waren ihre Gedanken, als sie den Telefonhörer aufnahm und die Nummer wählte, die sie häufig in ihrer Tageszeitung annonciert gesehen hatte. Endlich konnte sie einmal die Möglichkeit nutzen, etwas Brisantes direkt bei der Nachrichtenredaktion zu melden.
23:00
G unnar traf Emil Edilon in der Kneipe.
»Hast du immer noch keine Antwort?«, fragte er.
Emil schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mich mit all meinen Bekannten in Verbindung gesetzt, aber von denen hat bislang noch niemand zurückgerufen.«
»Scheiße, die Frist läuft bald ab«, sagte Gunnar.
Emil konzentrierte sich wieder auf den handgeschriebenen Zettel, der auf dem Tisch lag, und rauchte eine Pfeife dazu. »Mir fällt gerade ein, ob man einen Versuch machen sollte, das ins Englische zurückzuübersetzen und damit im Internet nach dem Text zu suchen«, sagte er.
»Los, versuch, das zu übersetzen«, befahl Gunnar und stand auf, um zwei Gläser Bier und einen Kuemmerling für sich zu holen. Als er zurückkehrte, sagte Emil: »Was sagst du dazu, On the way downtown I stopped at a bar. Das war ziemlich einfach. Sollen wir es mal damit versuchen?«
Gunnar rief Dóra an und las ihr Emils Übersetzung vor. »Gib das jetzt bei Google ein«, sagte er anschließend. Er biss sich auf die Lippe, während er wartete.
»Hier kommt ein Resultat«, sagte Dóra aufgeregt. »Das liegt auf
der Webseite von irgendeiner Universität in Georgia, Englisch
5370.The Big Sleep, ganz am Ende.«»The Big Sleep«,
wiederholte Gunnar. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte
Emil. »Raymond Chandler.« »Jetzt fehlt uns der Absatz davor«, fuhr
Gunnar fort. »Steht der da auch?« »Nein«, antwortete Dóra. »Wir
brauchen die isländische Ausgabe,Der große Schlaf, so heißt der
Roman in der Übersetzung«, sagte Emil. »Besitzt du dieses Buch?«,
fragte Gunnar. Emil schüttelte den Kopf. »Nein, dazu musst du in eine
Bücherei«, erklärte er. »Die haben doch jetzt alle zu, wie soll ich
da reinkommen?« Gunnar schaute auf die Uhr. »Wir haben nur noch gut
eine Stunde Zeit, um die Antwort zu schicken.« Emil zuckte mit den
Achseln. »Brich ein«, sagte er. Während Gunnar über dieses Problem
nachdachte, sah er ein bekanntes Gesicht an der Bar, und plötzlich kam
ihm die Idee. Er leerte sein Bierglas, stand auf und stiefelte zum
Tresen. »Kolbrún«, sagte er. Kolbrún Guðjónsdóttir sah Gunnar
erstaunt an. Dann nickte sie ihm zu und
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