Bevor der Morgen graut
Schlüsse und arbeitet damit. In diesem Zusammenhang ist es auch korrekt, euch auf die Tatsache hinzuweisen, dass von Vilhjálmurs Anorak kein Stoffstück abgetrennt worden ist wie bei den anderen Opfern. Über diese Stoffschnipsel ist nichts in den Medien verlautet worden, deswegen konnte ein Trittbrettfahrer nichts davon wissen. Das heißt, wenn es nicht der Ganter war, der Vilhjálmur umgebracht hat.«
Magnús hob die Hand und sagte: »Wenn diese Theorie stimmt, wie kommt es dann, dass Ragnar Hjördís auf dem Foto erkannt hat und wusste, wie sie heißt und dass sie lesbisch ist?«
Alle Augen richteten sich auf Símon.
»Ich weiß es nicht«, sagte Símon. »Ragnar war sich ganz sicher.«
»Aber Hjördís hat rundheraus abgestritten, Vilhjálmur gekannt zu haben«, warf Birkir ein. »Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass sie sich nach einer anderen Wohnung umgeschaut hat, denn sie hat im Augenblick eine ganz nette Wohnung, und überdies wollte sie bald wieder nach New York.«
»Fallen euch noch weitere Unstimmigkeiten ein?«, fragte Magnús.
»Ragnar hat erst zugegeben, einen Schuss abgefeuert zu haben, nachdem ich mir sein Gewehr angesehen und ihn direkt danach gefragt habe«, erklärte Gunnar. »Der Ganter hätte mit Sicherheit eine neue Patrone eingelegt, falls auf ihn geschossen worden wäre, und dann hätte er vermutlich eine leere Hülse auf dem Boden hinterlassen.«
»Weitere Punkte?«, fragte Magnús.
»Diese neue Variante würde auch erklären, warum wir trotz der groß angelegten Fahndung nach dem Mord keinen Verdächtigen in der Umgebung gefunden haben«, sagte Birkir. »Das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen.«
Magnús nickte zustimmend. »In Ordnung. Gehen wir das Ganze dann Schritt für Schritt durch. Motiv, Vorsatz, Gelegenheit.«
»Die Gelegenheit liegt auf der Hand, der Vorsatz kommt überraschend, aber das Motiv?«
»Geld«, antwortete Birkir.
»Wieso das?«, fragte Magnús.
»Ragnar und seine Frau sind die einzigen Erben von Vilhjálmur.Vielleicht hat Ragnar nicht jahrelang auf das Erbe warten wollen. Vilhjálmur war ein Mann im besten Alter und sehr rüstig«, sagte Birkir.
»Falls dieser Mord nicht auf das Konto des Ganters geht«, sagte Magnús, »ändert sich unser ganzes Raster für den Vergleich. Wir müssen das gesamte Material noch einmal durchgehen.«
»Sollen wir Ragnar jetzt gleich holen und ihn noch einmal vernehmen?«, fragte Gunnar.
Magnús nickte. »Wir müssen ein Geständnis von ihm bekommen, wenn er schuldig ist. Unser Beweismaterial reicht keineswegs für eine Verurteilung aus. Ihr müsst geschickt zu Werke gehen.«
Magnús’ Handy meldete sich. Er nahm das Gespräch entgegen und hörte eine Weile zu, ohne etwas zu sagen. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, verkündete er: »Das war der Computerexperte. Sie haben jetzt endlich etwas über diese Hotmail-Adresse herausgekriegt. Sie wurde von einem der Computer aus eingerichtet, die den Benutzern der Stadtbücherei zur Verfügung stehen.«
»Kann man an irgendwelche Informationen über die Benutzer herankommen?«, fragte Birkir.
»Das versuchen sie herauszufinden.«
16:45
R agnar war draußen vor dem Haus und harkte Laub zusammen, als Birkir und Gunnar vorfuhren. Er trug eine blaue Latzhose, eine graue Fleecejacke, gelbe Arbeitshandschuhe und schwarze Gummistiefel. Auf dem Rasen lagen bereits drei kleine Haufen mit verwelktem Laub, und er kehrte geradeeinen vierten zusammen. Der Gartenfreund schaute nicht auf, als sie sich näherten, sondern harkte mit langsamen, mechanisch wirkenden Bewegungen weiter.
Die Kriminalbeamten blieben stehen, und Gunnar sprach ihn an: »Guten Tag, Ragnar.«
»Ich bin gleich fertig«, entgegnete Ragnar, ohne sie anzusehen.
»Wir müssen dich bitten, mit uns aufs Polizeipräsidium zu kommen«, sagte Gunnar.
»Ich muss zuerst noch das Laub in Müllsäcke tun, damit es nicht wegfliegt«, sagte Ragnar. »Es dauert nicht lange.«
Gunnar schaute Birkir an, der nickte.
Neben einem der Laubhaufen lag ein schwarzer Müllsack, und Ragnar begann, das Laub hineinzustopfen.
»Lass mich dir helfen«, sagte Birkir und bückte sich. Er griff nach dem Müllsack und hielt ihn auf, während Ragnar mit den Händen das Laub hineinstopfte. Als dieser Haufen verschwunden war, gingen sie zum nächsten, der den gleichen Weg nahm. Birkir musste das Laub zusammenpressen, damit auch der letzte Haufen Platz fand. Sie taten das, ohne ein Wort zu sagen, und Gunnar sah ihnen zu. Nach getaner
Weitere Kostenlose Bücher