Bevor der Morgen graut
bevor er erklärte: »Der Polizist, der gestern mit mir sprach, hat gesagt, der Mörder sei eine Frau gewesen. Er war sehr freundlich.«
»Und du hast sie auf dem Foto erkannt?«, fragte Gunnar.
»Ja, doch.«
»Wie heißt sie?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Irgendwas mit -dís.«
»Aber gestern, als du mit dem Kriminalbeamten gesprochen hast, konntest du dich erinnern, oder nicht?«
»Nein, zuerst nicht. Er hat den Namen gesagt, und dann habe ich mich erinnert.«
Gunnar und Birkir warfen sich einen Blick zu.
»Herdís«, sagte Birkir.
»Ja, genau, Herdís.«
»Oder Hjördís«, sagte Gunnar.
»Hieß sie Hjördís?«, fragte Ragnar. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wer diese Frau ist, und du hast sie nie zuvor gesehen«, sagte Gunnar. »Aber zu dem Schuss. Du hast einen Schuss in Richtung des Mörders abgefeuert. Warum?«
»Um ihm einen Schreck einzujagen, damit er mir nicht nachsetzen würde.«
»Hat er wirklich Anstalten gemacht, das zu tun?«
»Ja, er kam angerannt und zielte mit seiner Flinte auf mich. Ich meine, sie.«
»Das stimmt nicht mit der Schilderung überein, die du mir am Sonntag gegeben hast.«
»Nein, aber ich kann mich jetzt daran erinnern.«
Gunnar hob fassungslos die Hände. »Wir sitzen hier noch den ganzen Tag, wenn dieser Quatsch so weitergeht.«
Ragnar sagte leise: »Ich kann nicht so lange hier bleiben. Bára wird bald wieder aufwachen. Sie darf nicht lange allein gelassen werden.«
»Es geht alles viel schneller, wenn du uns gleich die Wahrheit sagst«, sagte Birkir.
Ragnar sah erst Gunnar an und dann wieder Birkir. »Dann möchte ich aber, dass er so lange hinausgeht. Er macht mich nervös. Ich kann nicht denken, wenn ich angeschrien werde.«
Gunnar erhob sich stöhnend. »Na schön, ich werde für eine Weile den Raum verlassen. Birkir, willst du einen Kaffee?«
»Ja«, sagte Birkir. »Ragnar, möchtest du auch einen Kaffee?«
»Ja, danke. Bitte mit etwas Milch, wenn es nicht zu viel Mühe macht.«
Gunnar schnitt eine Grimasse, verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Birkir sprach auf’s Band: »Gunnar Maríuson verlässt das Zimmer. Die Vernehmung ist vertagt.« Birkir schaltete das Gerät aus und beugte sich über den Tisch. »Das hier bleibt ganz unter uns«, sagte er, »wir müssen einen Weg finden, der es uns allen erleichtert.«
Er öffnete die Mappe, die auf dem Tisch lag, und entnahm ihr eine leere Patrone in einem Plastikbeutel. »Das ist die Patrone aus deinem Gewehr«, sagte er. »Unsere Fachleute haben jedes einzelne Teilchen des Schusses, dem dein Schwiegervater zum Opfer gefallen ist, gesammelt, Schrotkörner, Amboss,Schrothülse. Die Entfernung war so gering, dass das meiste in Vilhjálmurs Körper gelandet ist und dort stecken blieb. Anderes schlug durch ihn hindurch und landete in der Erde vor ihm. Unsere Techniker fügen das jetzt alles unter dem Mikroskop wieder zusammen, und wenn das geschafft ist, können wir beweisen, dass der Schuss aus dieser Patrone kam. Dann brauchen wir auch nicht mehr mit dir zu reden, sondern die Sache geht direkt an den Staatsanwalt, und die Anklage lautet auf Mord. Wenn du uns aber die Wahrheit sagst, können wir dir vielleicht auf irgendeine Weise helfen, indem wir möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass es sich um fahrlässige Tötung gehandelt hat. Fast wie bei einem Verkehrsunfall.«
Ragnar sank auf seinem Stuhl zusammen. »Ich kann meiner Bára nicht sagen, dass ich es getan habe.«
Birkir hielt den Atem an. Das war eine unerwartet schnelle Kapitulation, aber es reichte noch nicht aus. Ragnar musste dazu gebracht werden, mehr zu sagen. »Ich kann ihr sagen, das der Schuss versehentlich losgegangen ist«, sagte Birkir, »wenn du mir jetzt die ganze Geschichte erzählst.«
Birkir schaltete das Gerät wieder ein. Nach langem Schweigen begann Ragnar leise: »Ich habe immer davon geträumt, ein kleines Eigenheim zu besitzen, mit einem windgeschützten Garten drumherum, wo ich alles selber gestalten könnte, Beete, Rosensträucher und Bäume.« Ragnar erhob die Stimme etwas. »In unserer jetzigen Wohnung muss ich immer das Einverständnis der anderen Wohnungseigentümer einholen, um das Grundstück einigemaßen in Schuss halten zu können. Und dann sind da Familien mit Kindern, die einen deswegen schief ansehen und behaupten, dass ihre Kinder nicht im Garten spielen dürfen. Und sich beschweren, wenn ich die Kinder ausschimpfe, obwohl in der Hausordnung steht, dass auf dem Rasen kein
Weitere Kostenlose Bücher