Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
wüsste, wo dein Porträt ist, Francesca. Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich dir helfen.“
Unwillkürlich fragte Francesca sich, wieso sie den Eindruck hatte, dass diese Worte alle wie auswendig gelernt klangen. „Wer weiß es noch, Rose?“
„Wie meinst du das?“
„Hast du Chief Farr davon erzählt?“
Rose versteifte sich. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mit ihm jemals über dich oder über das Porträt gesprochen habe. Der Mann hat sowieso immer nur eines im Sinn.“
Sie ließ diese unangenehme Tatsache auf sich beruhen. Rose und Farr waren einmal ein Liebespaar gewesen, und Liebende verrieten sich ihre tiefsten, finstersten Geheimnisse, und das beunruhigte sie zutiefst. „Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen“, sagte sie nach einer Weile. „Wenn nämlich dieses Porträt in dieser Stadt jemals zur Schau gestellt wird, bin ich erledigt.“
Rose verzog keine Miene. „Ich hoffe, du findest es. Ich kann mir vorstellen, mit deiner Arbeit schaffst du dir viele Feinde.“
Von Francesca kam als Reaktion darauf nur ein finsteres Lächeln. Sie hatte Bill Randall für den Täter gehalten, aber das Mysterium war soeben um ein paar Facetten bereichert worden. Es gab so viele Puzzlestücke, die untersucht werden mussten! Aber da war noch etwas anderes, das sie störte. Etwas stimmte nicht an der Art, wie sich Rose an sie gewandt hatte.
Zählte sie wirklich zu ihren Freunden? Oder vielleicht doch zu ihren Feinden?
Plötzlich sagte Rose: „Der Traum hat mich daran erinnert, dass du geholfen hast, Daisys Mörder zu finden.“ Sie lächelte schwach. „Darum bin ich hergekommen und habe dir von dem Porträt erzählt. Jetzt sind wir quitt.“
Jemand klopfte an die Haustür, und Francesca gab Rose das Geld für die Droschke. „Ich weiß zu schätzen, dass du hergekommen bist, um mir die Wahrheit zu sagen. Ich hoffe, wir sind Freunde, Rose. Ich wünsche dir nur das Beste!“ Sie meinte das so, wie sie es sagte, aber die andere Frau errötete und wich ihrem Blick aus.
„Danke.“ Rose verließ den Salon.
Francesca war sich so gut wie sicher, dass sie ihr etwas verheimlichte. Sie hoffte, Rose war nicht die Diebin. Zumindest hatte sie jetzt aber einen weiteren Grund, um mit Hart zu reden, und genau das würde sie als Nächstes tun.
Joel stand im Foyer, sein Gesicht kreidebleich, die Wangen knallrot. Ihr war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Sie stürmte an Rose vorbei und rief: „Joel? Was ist los?“
Er kam ihr entgegengelaufen. „Jemand hat Lizzie entführt!“
FÜNFZEHN
Dienstag, 1. Juli 1902
20 Uhr
Sie hatten das Haus, in dem Maggie wohnte, fast erreicht. Um diese Uhrzeit kamen sie gut voran. Die Avenue A wirkte wie ausgestorben: Nicht eine einzige Kutsche war unterwegs, nur ein paar Fußgänger waren zu sehen. Die meisten von ihnen mussten kurz zuvor einen der zahlreichen Pubs im Viertel verlassen haben; ihre unsichere Gangart deutete auf einen mehr oder minder berauschten Zustand hin.
Francesca hatte Joel noch nie so aufgeregt erlebt. Er hatte ihr im Detail berichtet, was kurz zuvor vorgefallen war: Die Kinder hatten sich auf der Straße getummelt, als ein Kerl Lizzie packte und auf die Ladefläche eines Wagens warf. Der Unbekannte sprang hinterher, und ein anderer Mann steuerte das Gefährt, als sie die Flucht ergriffen. Das Ganze hatte beim ersten Hören keinen Sinn ergeben, und Francesca überlegte auch jetzt noch, was sich hinter dieser Geschichte verbarg.
Sie hielt den Jungen an der Hand fest, was der widerstandslos geschehen ließ – ein sicheres Zeichen dafür, wie verängstigt er war. Manchmal vergaß sie einfach, wie jung ihr Assistent noch war, doch das lag wohl auch daran, dass er für einen Burschen von elf Jahren viel erwachsener wirkte.
Ein Stück weiter entdeckte Francesca einen Polizeiwagen. Ein großes braunes Pferd stand geduldig da, während etliche Polizisten umherschwirrten; die meisten von ihnen hatten die Hand am Schlagstock. Eine Schar schaulustiger Nachbarn hatte sich ringsum versammelt, um zu gaffen.
Francesca suchte die Menge nach Bragg ab. Ihr Herz machte vor Erleichterung einen Satz, als sie ihn sah. Sie hatte ihn gleich, nachdem Joel zu ihr gekommen war, angerufen. Zum Glück war er noch im Büro gewesen.
„Der Commissioner ist schon da“, rief der Junge. „Vielleicht haben sie Liz ja gefunden!“
Bragg war in eine Unterhaltung mit Maggie vertieft und blickte ernst und konzentriert drein. Da beide direkt unter einer Gaslaterne
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