Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
Nichterscheinen konnte sie sich nicht vorstellen.
Und dann hatte sie versucht, sich Harts Laune auszumalen.
Der Fahrer hatte inzwischen eine Seite des Tors weit genug geöffnet, damit seine Kutsche hindurchpasste, dann kehrte er zurück und kletterte wieder auf seinen Platz, damit sie weiterfahren konnten. Francesca saß in der Kabine und verspürte nichts anderes als Angst. Sie konnte sich nicht länger weismachen, dass Hart um sie besorgt war. Dafür kannte sie ihn viel zu gut. Er besaß ein schrecklich aufbrausendes Temperament und eine allzu zynische Einstellung.
Während der Wallach die Droschke über den Kiesweg zog, ergab Francesca sich ihrem übermächtigen Kummer. Sie war stets optimistisch eingestellt, sie glaubte immer erst einmal an das Gute im Menschen. Nicht so Hart. Er vertraute nichts und niemandem. Lediglich ihr gegenüber hatte er Vertrauen gefasst, aber das war jetzt bedeutungslos; sie fürchtete, dass er schrecklich wütend auf sie war.
Doch das war nicht mal das Schlimmste, denn ein- oder zweimal war es ihr möglich gewesen, einen Blick hinter seine Fassade aus Arroganz und Verachtung, aus Reichtum und Macht zu werfen, und dabei hatte sie eine ungeheure Verwundbarkeit vorgefunden. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihm nicht wehgetan hatte. Fast wäre sie in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Wie oft hatte man sie gewarnt, dass er ihr wehtun würde?
All ihre Erleichterung darüber, aus der Galerie entkommen zu sein, war verflogen. Sie musste Hart in aller Ruhe erklären, was sich zugetragen hatte, und dann mussten sie sich auf den Weg machen und das Gemälde aus der Galerie holen. Das war eine Sache, die keinen Aufschub zuließ. Dem Streifenpolizisten hatte sie nichts von dem Porträt gesagt; sie wollte nicht, dass er es sich ansah. Als sie Waverly Place hinter sich ließ, schloss der Mann die Eingangstür wieder ab, was sie zumindest vorübergehend beruhigte. Im Nachhinein jedoch wünschte sie, sie hätte das Porträt zerstört.
Sie stieg aus und bezahlte den Fahrer. Im Erdgeschoss des Herrenhauses brannte kein Licht. Hin und wieder war Hart so finsterer Laune, dass er sein gesamtes Personal wegschickte, um dann in seinem Heim, das eher einem Mausoleum ähnelte, einsam und allein mit einem Glas Scotch in der Hand umherzustreifen und die von ihm zusammengetragenen Kunstwerke zu bewundern. Fast hätte sie geglaubt, dass er genau das jetzt gerade machte, doch sie wusste, dass er Gäste hatte. Rathe und Grace Bragg hatten sich langfristig bei ihm einquartiert, bis das Haus fertig war, das sie im westlichen Teil der Stadt bauen ließen. Und auch Nicholas D'Archand sowie zwei weitere Bragg-Geschwister wohnten hier.
Von einem unguten Gefühl erfasst, das sie gar nicht erst abzuschütteln versuchte, ging sie die Stufen hinauf zur Tür und passierte dabei zwei riesige steinerne Löwen am Kopf der Treppe. Auf dem Vordach hoch über der Tür thronte ein bronzener Hirsch. Noch bevor sie nach dem schweren Türklopfer aus Messing greifen konnte, wurde die Haustür geöffnet. Sie rechnete damit, dass Hart im Eingang zum Vorschein kam, doch es war Alfred, der sie eintreten ließ.
Francesca eilte ins Haus. „Wie geht es ihm?“
Alfred sah sie mit großen Augen an. „Miss Cahill! Geht es Ihnen gut?“
Sie wusste, sie war schmutzig und zerzaust, und ihre Hände waren von den Glasscherben blutig. „Nein, es geht mir nicht gut, aber ich benötige keinen Arzt. Ich muss mit Hart sprechen.“
„Mr Hart ist in der Bibliothek und kümmert sich um geschäftliche Angelegenheiten.“
„Sie wollen mir doch nicht sagen, dass er mein Nichterscheinen in der Kirche einfach so hingenommen hat, oder?“
„Ich weiß nicht, wie es ihm momentan geht, Miss Cahill. Er ist extrem ruhig.“
Sie sah ihn entsetzt an und fragte leise: „Hat er getrunken?“ Wenn Hart unter großem psychischem Druck stand, neigte er dazu, zum Alkohol zu greifen, weil er glaubte, so den Schmerz vermeiden zu können. Ihr machte er Angst, wenn er betrunken war, jedoch nicht etwa, weil er dann gewalttätig wurde. Sie wusste, er würde nie die Hand gegen sie erheben. Aber seine Laune verfinsterte sich noch weiter und er war stets zu Tode betrübt, sobald er sich in einen Rausch trank, der ihn alles vergessen lassen sollte.
„Nein“, antwortete Alfred.
Sie konnte nur beten, dass das ein gutes Zeichen war – dass er sich nicht von ihr verletzt fühlte und er interessiert war zu erfahren, warum sie die Hochzeit versäumt hatte. „Vielen
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