Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
Cahill? Geht es Ihnen gut?“, hörte sie auf einmal eine vertraute Jungenstimme.
Sie schlug die Augen auf und entdeckte Joel Kennedy, der soeben an ihrer Hand zog. Noch nie war sie so froh darüber gewesen, einen vertrauten Menschen zu sehen. Sie konnte Joel gut leiden, und das nicht nur, weil er unverzichtbar war, um sich in den übelsten Stadtvierteln zurechtzufinden und mit den dort heimischen Gaunern und Ganoven klarzukommen. Er war für sie so etwas wie ein kleiner Bruder. Spontan bückte sie sich und schloss ihn in ihre Arme. „Hart ist sehr böse auf mich“, flüsterte sie ihm zu, bevor sie ihn wieder losließ.
„Sie haben ihn sitzen lassen! Ist doch klar, dass er böse ist. Aber er liebt Sie, und er wird Ihnen vergeben.“ Seine dunklen Augen wirkten in dem blassen Gesicht riesengroß.
Kindermund tut Wahrheit kund, dachte sie und betete, er möge recht behalten.
„Sie haben ja überall Kratzer! Was ist passiert?“
„Wir haben einen Fall, Joel. Kannst du mir heute Abend helfen?“
Er nickte und sah sie besorgt, jedoch nicht überrascht an. „Brauchen wir die Bullen? Den Commissioner haben Sie nämlich verpasst. Der war vor einer Stunde hier und hat mitgeholfen, nach Ihnen zu suchen.“
„Natürlich brauche ich Bragg“, erklärte sie lächelnd. Tatsächlich hatte sie ihn noch nie mehr gebraucht als in diesem Moment.
„Peter“, sagte Leigh Anne leise. „Würden Sie mir wohl einen Brandy bringen? Mein Bein macht mir gerade wieder zu schaffen.“ Sie fragte sich, ob er sich weigern würde.
Doch der schwedische Diener, der mit seiner Größe von mehr als eins fünfundneunzig nahezu jeden überragte, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Falls er wusste, dass sie bereits ihren Tee mit einem Schuss Brandy getrunken hatte, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. Seine Miene zeigte keine Regung, als er das kleine, langweilig eingerichtete Esszimmer verließ, in dem Leigh Anne mit Katie und Dot beim Essen zusammensaß.
Katie hatte nur wenig zu sich genommen, aber jetzt legte sie die Gabel weg und sah sie beunruhigt an, sodass Leigh Anne sich wünschte, sie hätte besser gar nichts gesagt. Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die des Mädchens. „Darling, es geht mir gut, wirklich. Es ist nur ein leichtes Ziehen“, behauptete sie, während sie sich den Kopf zerbrach, warum ausgerechnet ihr rechtes Bein, ihr unversehrtes Bein, in dem sie noch Gefühl hatte, ihr so sehr zu schaffen machte. Doch diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu dem unerträglichen Druck, der auf ihrer Brust lastete und der einfach nie nachließ. Sie wachte damit auf, litt den Tag darunter und ging am Abend mit dieser zentnerschweren Last wieder zu Bett. Was sollte sie bloß ohne Alkohol und Laudanum machen?
Nachdem sie von der Hochzeit heimgekehrt war, hatte sie als Erstes einen Tee mit einem großzügigen Schuss Brandy getrunken. Eigentlich wollte sie nicht über die Hochzeit nachdenken, die nicht stattgefunden hatte, doch die unangenehmen Erinnerungen drängten sich immer wieder in den Vordergrund. Als sie in die Braggs einheiratete, da war sie davon ausgegangen, regelmäßig Bälle und Partys zu besuchen und ein Leben in Luxus zu führen. Stattdessen hatten sie in einer schäbigen Wohnung zur Miete gelebt, während sich Rick jeden Tag und jede Nacht damit um die Ohren schlug, als Pflichtverteidiger dubiose Mandanten vor Gericht zu vertreten. Sie war sich verraten und im Stich gelassen vorgekommen und hatte sich schließlich nach Europa abgesetzt in der Hoffnung, er würde ihr folgen und sie um Verzeihung bitten. Das war jedoch nicht geschehen. Nach einer Weile gewöhnte sie sich an die Tatsache, dass ihre Trennung von Dauer sein würde. Das Leben auf dem Kontinent erwies sich als glamourös, und sie beschloss, ihre naiven Träume zu vergessen, an die sie als Debütantin noch geglaubt hatte. Schon bald bewegte sie sich in den besten Kreisen, und oft wurde sie von ehrgeizigen Geldgebern und schneidigen Adligen umworben.
Erst als sie erfuhr, dass ihr Vater schwer erkrankt war, kehrte sie in die Staaten zurück. Dort fand sie zu ihrem Entsetzen heraus, dass Rick eine andere Frau liebte. Sofort hatte sich ihr Selbsterhaltungstrieb zu Wort gemeldet; sie wollte sich nicht durch eine Liebesaffäre demütigen oder durch eine Scheidung ruinieren lassen. Also machte sie sich umgehend auf den Weg von Boston nach New York, um ihren Mann wissen zu lassen, dass sie die Ehe aufrechtzuerhalten gedachte.
Er reagierte mit
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