Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
kompromittierend, aber er konnte mit diesem Wort nichts anfangen. Nachdem sie ihm anvertraut hatte, sie habe auf eine Weise Modell gestanden, die von der Gesellschaft mit Kopfschütteln aufgenommen würde, war die Angelegenheit für Joel abgeschlossen. Er fand die Moralvorstellungen der Gesellschaft ohnehin verwirrend, bedeutungslos und manchmal einfach nur blöd, wie er es selbst ausdrückte.
Als Madison Square Nummer 11 in Sichtweite kam, da spürte Francesca, wie ihr Herz einen Satz machte. Der Platz war um diese Uhrzeit verlassen, aber der Park wurde von den Straßenlampen und vom Mond wunderschön beschienen. Braggs Haus war ein schmales viktorianisches Gebäude. Es stand in einer Reihe mit ähnlichen Backsteinbauten, nicht weit von der dreiundzwanzigsten Straße entfernt. Francesca musste daran denken, wie Bragg mit ihr von dort zum Broadway gegangen war, um ihr das Flatiron Building, das Bügeleisenhaus, zu zeigen. Es war gerade fertiggestellt worden. Die Zeitungsleute nannten es „Wolkenkratzer“. Das hohe dreieckige Gebäude war ein erstaunlicher Beleg für die Genialität des Menschen.
„Er ist zu Hause“, sagte sie, als sie seinen Daimler bemerkte, der vor dem kleinen Kutschhaus gleich neben dem Haus der Braggs geparkt war. Sie bezahlte den Droschkenfahrer, dann stiegen sie und Joel aus. Im Erdgeschoss und im ersten Stock brannte Licht.
Francesca hatte ihre Fassung in der letzten halben Stunde weitestgehend zurückerlangt. Dennoch war sie von Harts Worten zutiefst verletzt worden, und insgeheim wünschte sie sich, sie könnte sich in Braggs Arme fallen lassen, damit er sie tröstete. Immerhin war er einer der mitfühlendsten Männer, die sie kannte. Der erwachsenere Teil ihres Ichs allerdings riet ihr, ihr momentanes Zerwürfnis mit Hart für sich zu behalten.
Während die Kutsche weiterfuhr, gingen sie beide den gepflasterten Weg zur Haustür entlang. Francesca klopfte an die Tür, Joel stand neben ihr. Sie konnte es kaum erwarten, Bragg zu erzählen, was ihr alles zugestoßen war.
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen. „Ich wusste, dass du das bist! Bist du verletzt?“
Sie trat ein, gefolgt von Joel. Die Erleichterung, die sie verspürte, war so groß, dass ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet, stark und unabhängig zu bleiben. „Ich hatte einen schrecklichen Tag“, erklärte sie und lächelte verkrampft.
„Das sehe ich“, entgegnete er und ließ sie abrupt los.
In dem Moment wurde ihr bewusst, dass er sie eigentlich in seine Arme schließen wollte, stattdessen jedoch wie angewurzelt dastand. Ob sie darauf mit Erleichterung oder Enttäuschung reagieren sollte, wusste sie nicht so recht.
Joel setzte dem betretenen Schweigen ein Ende. „Was ist denn mit Ihnen beiden los? Wir müssen einen Fall lösen! Jemand hat Miss Cahill eingesperrt und versucht, sie davon abzuhalten, Mr Hart zu heiraten!“
„Nun, Joel“, erwiderte sie. „Genau genommen hat dieser Jemand es auch geschafft, mich vom Heiraten abzuhalten.“ Irgendwie schaffte sie es, ihren Blick von Bragg zu lösen. Wo war Leigh Anne?
„Was ist passiert? Wieso hast du Kratzer und Schnittwunden im Gesicht und an den Händen?“ Er nahm ihren Arm und führte sie in sein Arbeitszimmer, einem kleinen düsteren Raum mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen. Im Kamin brannte kein Feuer. Joel folgte ihnen bis zur Tür, blieb jedoch im Flur stehen.
Francesca warf einen letzten Blick über die Schulter, aber seine Frau hielt sich auch nicht im Salon am Ende des Flurs auf, obwohl die Tür offen stand und das Licht brannte. „Komme ich ungelegen?“
„Natürlich nicht!“, antwortete er. „Alle sind deinetwegen in heller Aufregung!“
Nicht alle, dachte sie. Hart war eindeutig nicht in heller Aufregung gewesen. Es kam ihr vor, als würde ihr das Herz erneut gebrochen, doch sie beschloss, das Gefühl zu ignorieren. „Das hier wurde heute Morgen bei mir zu Hause abgegeben, kurz nachdem du gegangen warst“, sagte sie und holte den Umschlag mit der Aufschrift Eilt aus der Handtasche.
Bragg nahm den Umschlag entgegen und zog die Einladung heraus. Er überflog den Text und wurde bleich. „Das Porträt?“
Sie nickte und war froh darüber, sich mit der Ermittlung wieder auf vertrautem Terrain zu bewegen. „Als ich dort ankam, war die Galerie laut den Öffnungszeiten eigentlich geschlossen, aber die Tür war nicht verriegelt. Ich ging hinein und entdeckte das Porträt. Man hatte es an die Wand genagelt. Mein Gefühl sagte
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