Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
gewesen. Sosehr er auch vor Wut gekocht hatte, war er doch in der Lage gewesen, sich ein Bild von ihrer Verfassung zu machen.
Sie hatte davon gesprochen, von dem Dieb in eine Falle gelockt worden zu sein, der ihr Porträt entwendet hatte. Sollte das Gemälde an die Öffentlichkeit gelangen, würde er sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können. Ohne die Ruhe zu verlieren, kehrte er ans Fenster zurück. Unter ihm erwachten allmählich die Straßen zum Leben. Letztlich schloss sich der Kreis – denn dieses Porträt existierte nur, weil er es in Auftrag gegeben hatte.
Er war ein egoistischer, verderbter Bastard, weil er auf einem Aktgemälde bestanden hatte. Wäre es kein Akt gewesen, hätte sich der Dieb nicht die Mühe gemacht, es zu stehlen, und sie wäre gestern nicht auf die Suche gegangen.
Vielleicht hatte sie ja die Nachricht, in die Galerie zu kommen, als willkommenen Anlass genutzt, der Heirat aus dem Weg zu gehen – doch letztlich traf ihn die Schuld, dass sie es nicht geschafft hatte, zu ihm in die Kirche zu kommen. Er hoffte, darüber eines Tages lachen zu können.
Hart beruhigte sich. Er war jetzt der Jäger, der sich an seine Beute heranschlich. Sein Plan sah vor, das Gemälde aufzustöbern und dann zu vernichten. Wer immer es auch gestohlen hatte, wollte das Bild nicht gewinnbringend verkaufen, sondern ihn damit erpressen – oder Francesca damit ruinieren. Und er konnte nicht tatenlos zusehen, wie das geschah.
Unvermittelt griff Hart nach seinem Paletot, streifte ihn über und verließ eilig sein Büro. Nur zwei Minuten später winkte er auf der Straße eine Droschke zu sich. Sie hatte gesagt, die Galerie befinde sich am Waverly Place, also wies er den Fahrer an, ihn so schnell wie nur möglich dort hinzubringen, und bot ihm doppelte Bezahlung an.
Die Galerie war schnell gefunden. Zwei Polizisten bewachten das Ladenlokal, das man abgesperrt hatte, um Schaulustige fernzuhalten. Hart stieg aus der Droschke aus und wies den Fahrer an, auf ihn zu warten. Seine Sinne warnten ihn, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Aber als er die Nachbarschaft und die Galerie kritisch musterte und sich jedes Detail einprägte, das noch von Nutzen sein konnte, da konnte er nicht erkennen, was ihn so sehr irritierte.
Er ging auf die Galerie zu, doch einer der Polizisten kam ihm entgegen, um ihm den Weg zu versperren. Hart jedoch wartete nicht einmal ab, was der Mann ihm sagen wollte, sondern drückte ihm einen Zehndollarschein in die Hand und ging an ihm vorbei. Augenblicke später stand er vor der Wand, an dem das Porträt gehangen hatte. Die Löcher, die in das Mauerwerk gerissen worden waren, sprachen eine deutliche Sprache dafür, mit welcher Gewalt man das Bild von der Wand gezerrt hatte.
„Hat Commissioner Bragg das Bild abgenommen?“
„Nein, Sir.“
Als keine weiteren Informationen flössen, wandte sich Hart um und reichte dem Polizisten noch einen Schein, dann sagte er lächelnd: „Ich habe Chief Farr gestern Abend sagen hören, dass ein Gemälde gestohlen wurde, Sir.“
SIEBEN
Sonntag, 29. Juni 1902
9 Uhr
Francesca stützte sich auf dem Weg ins Erdgeschoss am Geländer ab. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Julia verließ ihre Räumlichkeiten nie vor Mittag, aber heute Morgen würde sie ganz sicher eine Ausnahme machen.
Kaum hatte sie zwei Stufen zurückgelegt, tauchte ihre Mutter im breiten Flur am Fuß der Treppe auf. Innerlich zuckte Francesca zusammen; Julia war bereits elegant angezogen, um das Haus zu verlassen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Guten Morgen, Mama“, rief sie ihr zu und erntete einen ernsten Blick.
„Von einem guten Morgen kann wohl kaum die Rede sein! Dein Vater hat mir eine wirre Erklärung geliefert, warum du gestern nicht in der Kirche erschienen bist.“
„Jemandem war daran gelegen“, entgegnete Francesca, während sie weiter nach unten ging, „die Hochzeit zu vereiteln.“
„Auf dem Rasen vor dem Haus lauern bereits die ersten Reporter“, entgegnete Julia ohne Mitgefühl. „Gleich ein halbes Dutzend.“
Leise stöhnend eilte Francesca an ihrer Mutter vorbei über den Marmorboden und warf einen Blick aus dem erstbesten Fenster. Julia hatte nicht übertrieben. Auf dem Rasen schlenderten sechs Reporter umher und warteten darauf, dass etwas geschah. Alle trugen sie zerknitterte Mäntel, einige dazu einen Filzhut. Sie erkannte das Scheusal von der Sun wieder, Arthur Kurland. Der Mann wusste weit mehr über ihr Privatleben, als es für einen Reporter
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