Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie das Herrenhaus der Channings erreicht hatten, und Francesca nahm sich vor, sich zumindest während der nächsten Stunden ganz auf die Suche nach dem gestohlenen Porträt zu konzentrieren. Ohne von den zahlreichen Brustwehren, den kleinen Türmen oder den unheimlich dreinblickenden Wasserspeiern Notiz zu nehmen, eilte sie zur Haustür, wo sie von einem Diener begrüßt wurde. Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, dass sie zu Sarah wollte, da kam die junge brünette Künstlerin schon zu ihr ins Foyer gelaufen.
„Francesca! Ich war ja so in Sorge um dich!“
Sie ließ sich von Sarah umarmen. Sie war ihr in den letzten Monaten ans Herz gewachsen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Sarah noch für recht dumm, sehr schüchtern und sehr langweilig gehalten, aber bereits nach kurzer Zeit war deutlich geworden, wie unkonventionell Sarah in Wahrheit war und wie viel sie beide gemeinsam hatten. Und als Francesca dann für sie Modell gesessen hatte, waren sie beide Freundinnen geworden. Sarah war genauso exzentrisch wie Francesca. Sie lebte ganz für ihre Kunst, was lediglich auf den ersten Blick nicht so offensichtlich war. „Sarah, ich habe gestern mein Porträt in einer Galerie am Washington Square gesehen!“
Bevor Sarah etwas erwidern konnte, fasste Francesca sie an der Schulter und zog sie mit sich zu einem großen venezianischen Spiegel. „Ich wurde in die Galerie gelockt und dort eingeschlossen – deshalb habe ich meine Hochzeit versäumt. Als ich mit Bragg einige Stunden später dorthin zurückkehrte, war das Bild schon wieder weg.“
Sarah wurde kreidebleich. „Ich wünschte“, erwiderte sie, „ich hätte mich niemals damit einverstanden erklärt, dich nackt zu malen!“
„Jetzt gibst du dir die Schuld?“, fragte Francesca ungläubig.
„Francesca, das Porträt wurde aus meinem Studio hier in meinem Haus gestohlen!“, betonte Sarah und ging aufgeregt auf und ab. Dabei lösten sich ein paar Strähnen aus ihrem lässig hochgesteckten Haar. So wie Francesca trug sie eine schlichte Bluse und einen dunklen Rock, und offenbar hatte sie sich in ihrem Studio aufgehalten, da sie auf ihrer Wange etwas Kohlestift verschmiert hatte. Schmuck trug sie nicht.
„Das verdammte Porträt ist schließlich der Grund dafür, dass du deine eigene Hochzeit versäumt hast!“ Sarah drehte sich um, ihre dunklen Augen waren von einem wütenden Feuer erfüllt.
„Ich wollte so provozierend Modell stehen, das weißt du ganz genau.“
An der Wand über ihnen hingen verschiedene Tierköpfe: ein Löwe, ein Elefant, eine Antilope. Allesamt Tiere, die der selige und weltbekannte Großwildjäger Richard Wyeth Chandler erlegt hatte.
„Bragg und ich ermitteln in der Sache, Sarah, da der Dieb jetzt in Erscheinung getreten ist. Es ist eindeutig, dass er – oder sie – meine Hochzeit verhindern wollte. Ich hoffe, ich darf dir ein paar Fragen stellen.“
„Ja, natürlich“, erklärte ihre Freundin sich sofort bereit. „Aber habe ich das richtig verstanden? Du glaubst, auch eine Frau könnte den Diebstahl begangen haben?“
„Ich bin mir nicht sicher, jedoch konnte Solange Marceaux entkommen, als die Polizei Murphy festnahm und seinen Prostitutionsring hochgehen ließ. Ich bin ihr ein Mal in die Quere gekommen, Sarah, und ich kann dir sagen, sie ist eine gefährliche Frau. Und sie ist auf mich nicht besonders gut zu sprechen.“
Sarah schlang die Arme um sich. „Ich erinnere mich, wie du mir davon erzählt hast. Du kannst froh sein, dass du noch lebst. Aber ich glaube nicht, dass Solange daran interessiert sein könnte, deine Hochzeit zu vereiteln. Wenn sie das Porträt in ihrem Besitz hat, will sie dich damit in den Ruin treiben.“
Nachdenklich sah Francesca vor sich hin. Die Vereitelung ihrer Hochzeit war womöglich nur ein Nebeneffekt von Solanges Absichten gewesen, Francescas Ruf zu zerstören. Sarah hatte recht: Solange war es egal, ob die Hochzeit stattfand oder nicht. Wenn schon, dann war sie daran interessiert, sich auf eine Weise an ihr zu rächen, die für Francesca den völligen Ruin bedeuten würde.
„Kommen noch andere Verdächtige infrage?“, wollte Sarah wissen.
Francesca verzog den Mund. „Wir konnten nur eine sehr dürftige Liste zusammenstellen.“ Auf der auch Bill Randall und seine Mutter standen. Wenn die Zeit es zuließ, würde sie versuchen, Henrietta Randall später einen Besuch abzustatten. Allerdings war es ein ziemlich weiter Weg bis ins
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