Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
den Arm nach unten, und er fängt meine Hand ein und drückt sie fest.
An diesem Abend legen wir Erik früh schlafen. Dann lieben wir uns mit einer Intensität und Konzentration, die ungewöhnlich sind, als ginge es um Leben und Tod. Danach ist Markus fast sofort eingeschlafen. Wie ein Kind ruht er schweißnass in meinen Armen.
Ich befinde mich in einem seltsamen traumlosen Halbschlaf. Gleite immer wieder hinein und hinaus. Draußen schneit es wieder. Morgen früh werden wir uns den Weg freischaufeln müssen. Der Mond lugt zwischen den Wolken hervor, malt den Rasen mit breiten silbrigen Pinselstrichen an. Aus irgendeinem Grund bin ich nicht müde. Vorsichtig befreie ich mich aus Markus’ Griff. Drehe mich auf die Seite und schaue auf die Nachttischuhr: 00.22.
Ich stehe auf, ziehe mein langärmliges Nachthemd an – eine Notwendigkeit in unserem kalten Haus – und gehe leise zu Erik hinüber. Vorsichtig lege ich ihm die Hand auf den Brustkorb, überzeuge mich davon, dass er atmet. In dem schwachen Licht kann ich seine rosigen und ein wenig wunden Wangen sehen, die Folge des langen Spaziergangs, den wir nach dem Besuch bei Sven und Sara durch den beißend kalten Wind gemacht haben.
Ohne richtig zu wissen, warum, gehe ich zur Treppe zum Dachboden. Lasse die Hand einige Sekunden auf dem Geländer ruhen und steige dann nach oben. Ich gebe mir alle Mühe, leise zu sein, will nicht riskieren, Markus oder, schlimmer noch, Erik zu wecken.
Dann ziehe ich die schiefe kleine Holztür hinter mir zu, setze mich in den einsamen Sessel und mache Licht. Der Lampenschirm mit den goldenen Troddeln schwankt. Da sind sie – die Kartons mit Stefans Sachen. Und ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, als ich die braunen, verstaubten Kartons berühre. Vorsichtig hebe ich den obersten Karton herunter, den, der Anders Holmbergs Todesanzeige und Stefans Fotos enthält, und öffne den darunter. Der Karton stöhnt laut auf, als ich ihn öffne, und ich fluche stumm und hoffe, dass unten nichts zu hören war.
Oben liegt Stefans Armbanduhr. Ich habe sie zuletzt vor Jahren gesehen, und das Wiedersehen verschafft mir einen leichten Krampf im Zwerchfell und eine Andeutung von Übelkeit. Lange, lange hatte ich die Uhr auf dem Nachttisch liegen, bin jeden Abend mit ihr in der Hand eingeschlafen.
Vorsichtig lege ich sie an, spüre das Gewicht des kalten Metalls. Die Uhr hängt an meinem dünnen Handgelenk, denn sie ist viel zu groß.
Dann: ein T-Shirt mit dem Aufdruck The Smiths . Ich halte es an mein Gesicht und atme den Geruch von Staub und Schimmel ein. Nicht den von Stefan, denke ich. Aber ich erinnere mich noch immer daran, oder hat er sich mit anderen Gerüchen vermischt, vielleicht sogar mit dem von Markus?
Ich weiß noch, dass ich in diesem T-Shirt geschlafen habe, als ich das Kind erwartete. Das Kind, das gestorben ist. Sicher habe ich das T-Shirt deshalb aufbewahrt, denn ich kann mich nicht erinnern, dass es für Stefan sonderlich wichtig gewesen wäre. Zögernd ziehe ich es über meinen Kopf, über mein langärmliges Nachthemd. Ich fühle mich dabei gespannt. Ich bin fasziniert davon, dass ich das alte T-Shirt gefunden habe, aber es kommt mir auch verboten vor, es anzuziehen, als würde ich etwas Unmoralisches tun.
Als wäre ich untreu.
Ich lasse mich in dem alten Cordsessel zurücksinken, der sofort ein wütendes Ächzen ausstößt, und greife zu einem S tapel vergilbter Briefe, der unter dem T-Shirt gelegen hat. Eine elegante, schöne Handschrift bedeckt eine Seite nach der anderen. Ich erkenne sie sofort als die von Maj. Stefans Mutter. Die Briefe scheint sie an Stefan geschrieben zu haben, als er in Kristianstad sein praktisches Jahr absolvierte.
Ich überfliege zwei davon. Alltägliche Mitteilungen, Berichte über die Renovierung zu Hause in der Rörstrandsgata. Die Mahnung, nicht den fünfundsiebzigsten Geburtstag der Großmutter zu vergessen. Ich unterdrücke ein Gähnen. Wonach suche ich eigentlich? Plötzlich weiß ich es. Ich will wissen, warum. Warum Stefan beschlossen hatte, mich zu verlassen, das Leben – und mich – loszulassen, tief im dunklen Wasser der Ostsee.
Ganz unten im Karton, neben einem Stapel alter Schuljahrbücher, liegt ein kleines schwarzes Buch. Ein vages Gefühl des Wiedererkennens flattert vorüber wie ein vom Wind eingefangenes Blatt, aber so schnell, wie es gekommen ist, ist es wieder verschwunden. Ich greife zu dem Büchlein, und als die in Leder gebundenen Seiten in meinen Händen
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