Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
denke ich über die Symbolik nach. Erik lacht hingerissen und spielt mit den Resten von Tang und verfaulenden Blättern, die Stefans Schultern bedecken. Stefan selbst grinst zahnlos, und dabei sträuben sich mir die Haare am ganzen Leib.
Und zugleich weiß ich mit Sicherheit noch im weichen Vergessenheitskokon des Traums, dass Stefan tot und auf ewig verloren ist und durchaus nicht hier sitzen und mit seinen kalten Armen mein Kind umarmen kann. Aber Stefan scheint sich nicht um meine Zweifel zu kümmern. Vorsich tig legt er die Hand an meine Wange, und ich spüre, wie die Trauer das Entsetzen durchdringt. Wie ein Messer schneidet sie in mein Fleisch, und es tut furchtbar weh, und gleichzeitig ist es unendlich schön, dass es noch immer wehtut.
Ich sehe ihn an. Er lacht wieder, seine Zähne sind gar nicht verschwunden. Sie sind nur bedeckt vom Schlamm des Meeresbodens, auf dem er gelegen hat.
Der Bürgersteig ist bedeckt von brüchigem Eis und nur spärlich gestreut. Ich gehe vorsichtig, mit kleinen Schritten, habe Angst auszurutschen, obwohl ich mich auf den Kinderwagen stützen kann. Auf der Straße vor mir geht ein Mann mit einem Kind in einem Wagen und einem größeren Jungen neben sich. Auf der anderen Straßenseite kommen zwei Teenies Arm in Arm. Sie lachen schrill und reden mit lauter Stimme. Der Himmel ist von weicher blaugrauer Farbe. Die Wende ist passiert. Das Licht kehrt zurück, und das spüren wir jeden Tag daran, dass die Tage schon länger werden. Der kälteste Winter seit Menschengedenken verliert die Stadt aus seinem eisernen Zugriff.
Bei der Allhelgonakirche steht sie in einer engen und vermutlich eiskalten schwarzen Lederjacke und einem breiten gestreiften Schal. Sie hat die Haare mitten auf dem Kopf zu einem achtlosen Dutt zusammengesteckt.
»Er schläft«, sage ich und schiebe die Haube des Kinderwagens ein wenig nach oben, damit Eriks rosa Gesichtchen zu sehen ist.
»Perfekt«, sagt Aina. »Wir gehen zum Brunch zu Vijay. Was hast du vor?«
Die Frage kommt unerwartet, obwohl sie doch auf der Hand liegt. Ohne richtig zu wissen, warum, fühle ich mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut.
»Ich muss zum Zahnarzt«, lüge ich.
Aina hat eine kleine, aber deutliche Falte zwischen den Augenbrauen. Wir kennen einander so gut, haben so viel geteilt. Ich kann sie nicht belügen, und sie kann mich nicht belügen. In dem Moment, in dem ich sage, dass ich zum Zahnarzt will, weiß sie, dass ich lüge. Und sie weiß, dass ich das weiß. Aber statt mich zu drängen und nach dem wirklichen Grund zu fragen, nickt sie nur stumm und sieht dann wieder den friedlich schlafenden Erik an.
»Und er hat gegessen?«
»Ja, aber gib ihm ein Butterbrot, wenn er Hunger bekommt.«
Sie nickt und streicht sich eine Strähne ihrer langen blonden Haare aus dem Gesicht.
»Bis dann also. Viel Glück beim … Zahnarzt.«
Es ist es seltsames Gefühl, wieder durch die Rörstrandsgata zu gehen. Stefan und ich waren hier so oft auf dem Weg zu seinen Eltern spazieren, aber jetzt war ich schon lange nicht mehr hier. Ich weiß noch, wie seine Mutter mir einmal vor langer Zeit erzählt hat, dass dieses Viertel »Klein-Paris« genannt wird, da die Gegend an die französische Hauptstadt erinnert. Ich biege vor der Birkahalle in die Vikingagata ab und gehe den Torweg entlang. Ich habe Maj angerufen und gesagt, dass ich sie sehen möchte. Sie war überrascht, hat sich aber gefreut. Und gesagt, das beruhe ganz auf Gegenseitigkeit.
Im Fahrstuhl riecht es wie immer. Eine Mischung aus Essen und etwas anderem: organisch, Übelkeit erregend, undefinierbar. Ein plötzliches Déjà-vu überkommt mich, und für einen Moment ist der Schmerz fast betäubend.
Stefan.
Wohin zum Teufel bist du gegangen? Und warum?
Maj öffnet die Tür. Wir haben uns fast fünf Jahre nicht mehr gesehen. Natürlich haben wir ab und zu telefoniert, und jedes Jahr kam eine Weihnachtskarte, die ich hinter dem Brotkasten versteckt habe, weil es wehtat, sie anzusehen.
Sie hat sich verändert. Die stattliche, kräftige Maj ist geschrumpft. Sie ist in sich zusammengesunken und hat neue Falten in ihrem schönen Gesicht. Noch immer elegant, aber gealtert und vielleicht müde. Sie umarmt mich, und ich erlaube mir, einige zusätzliche Sekunden in ihrer vertrauten Umarmung zu ruhen.
»Wo ist Stig?«
Ich schaue mich in der länglichen Diele um und rechne damit, dass Stefans Vater aus der Küche oder dem Wohnzimmer auftaucht. Maj schüttelt fast unmerklich den
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