Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
ruhen, weiß ich, worum es sich handelt: Stefans Kalender.
Die Seiten kleben zusammen und haben sich durch die Feuchtigkeit wie ein kleines Akkordeon zusammengezogen. 2005, das Jahr, in dem Stefan gestorben ist. Ich blättere vor sichtig. Der Kalender ist gefüllt mit kurzen Aufzeichnun gen über Patienten, Besprechungen und Freizeitaktivitäten – Bandy, Tauchen. Er hat über sein Lauftraining genau Buch geführt: 5. Januar, 13 km. 69 Minuten.
Ich hole tief Luft und spüre, wie mich wieder Übelkeit und klaustrophobische Trauer überkommen. So weit weg und doch so nah.
Dann fällt etwas aus dem Kalender. Ich hebe das quadratische kleine Stück Papier hoch. Es ist das Passfoto eines jungen Mädchens. Dunkle kurze Haare, große schwarze, ein wenig schrägstehende Augen. Sie ist schön und erinnert auf eine vage Weise an mich, das geht mir auf, als ich im Lampenschein das Bild betrachte. Vorsichtig drehe ich es um. »Alicia HT -87«, steht dort in einer krakeligen Schrift, die ich nicht kenne. Vorsichtig lege ich das Bild wieder in den Kalender. Lese weiter Stefans Notizen.
Dann hören die Aufzeichnungen auf. Eine leere Seite nach der anderen ruht unter meinen Fingern. Der Sommer 2005. Der erste Sommer ohne Stefan. Ich blättere zurück, will die unbeschriebenen Blätter nicht sehen, will die glatte, inhaltslose, unbefleckte Oberfläche nicht unter meinen Fingerspitzen spüren. Ich schaue lieber vorn hinein.
Januar 2005.
Mein Blick fällt auf eine kurze Notiz. »A treffen.« Das bezieht sich auf einen Montagabend, also gehe ich davon aus, dass hier nicht von einem Patienten die Rede ist. Vorsichtig blättere ich die von Feuchtigkeit schweren Seiten um. Die Woche darauf. »A treffen, Kaknästurm, 18.00.« Und ich denke, Kaknästurm, warum trifft man sich dort? Will man hochfahren und den Ausblick genießen oder soll es der Ausgangspunkt zu einem Spaziergang sein? Mit wem geht man an einem Mittwochabend spazieren? Stefan war kein großer Spaziergänger. Er lief oder lag auf dem Sofa, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen Spaziergang gemacht hätte.
Ich blättere weiter. Jede Woche ist ein Treffen mit »A« vermerkt. Ein kaltes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, und plötzlich scheine ich zu ahnen, was nun kommt. Am 22. Februar finde ich die letzte Notiz über »A«. Die übrigen Notizen gehen bis zum Sommer weiter, aber aus irgendeinem Grund haben diese Begegnungen, die Treffen mit »A«, im Februar aufgehört.
Mit schweißnassen Händen ziehe ich Anders Holmbergs vergilbte Todesanzeige aus dem anderen Karton.
»Gestorben am 25. Februar 2005.«
In diesem Moment wird die kleine Holztür geöffnet. Markus steht nackt und schlaftrunken und mit fragender Miene vor mir.
»Siri, was …?«
Ich kann nicht antworten, schüttele nur stumm den Kopf. Ohne richtig zu wissen, warum, verstecke ich Stefans Kalender auf meinen Knien. Lege die Hände darüber, wie über ein verletzliches kleines Tier, das ich vor der Welt beschützen muss. Ich sehe, dass Markus mich forschend mustert, sich jedes Detail einprägt, und plötzlich geht mir auf, wie seltsam ich aussehen muss, in Stefans T-Shirt und mit seiner Uhr am Arm.
»Du hast sein T-Shirt angezogen.«
Das ist eine Feststellung, keine Frage. Ich gebe keine Antwort.
Markus sieht besorgt und verwirrt aus, und ich verfluche mich, denn ich kann es nicht ertragen, wenn er sich meinetwegen Sorgen macht, kann diese viele Fürsorge nicht aushalten.
»Ich konnte nicht schlafen«, flüstere ich.
»Was machst du hier oben, mitten in der Nacht, in seinen Kleidern? Geht es dir nicht gut? Ist etwas passiert?«
Seine Stimme ist gefüllt mit unterdrückter Unruhe. Einen Moment darauf hockt er neben mir, legt seine starken Arme um meinen Hals und küsst meinen Nacken.
»Bitte, du. Kannst du nicht zu uns nach unten kommen?«
Ich spüre seinen schweren, heißen Atem an meiner Schulter. Für eine Sekunde bin ich gereizt, überlege, ihm zu sagen, zu erklären, dass ich jedes Recht der Welt habe, hier oben zu sitzen und Stefans Nachlass durchzusehen, wenn ich das will.
»Ich komme schon«, sage ich stattdessen und küsse ihn auf den Mund. Langsam erhebe ich mich, lösche die Lampe und gehe die Treppe hinunter, noch immer mit Stefans Kalender versteckt an meine Brust gepresst.
In dieser Nacht schlafe ich schlecht und träume von Stefan. Er sitzt im Bett, im Mondschein, zwischen mir und Markus, mit Erik im Arm, und obwohl ich weiß, dass es nur ein Traum ist,
Weitere Kostenlose Bücher