Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Treffen mit »A«. Die Notizen, die plötzlich aufhörten, als Anders Holmberg nicht mehr lebte.
»Das weiß ich gar nicht. Ich glaube, Stefan war auf der Beerdigung. Wir haben nur einmal darüber geredet, und er sagte, er wolle hingehen. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatten. Stefan wollte nicht darüber reden. Er war so erschüttert von Anders’ Tod, hat es wirklich schwer genommen.«
»Warum hat Stefan mir nie von ihm erzählt? Oder von dem Mord?«
Ich fühle mich betrogen. Hintergangen. Ich habe nie von diesem Anders gehört, der Maj zufolge für Stefan wie ein Bruder war.
»Nach dem Abitur haben sich ihre Wege getrennt. Sie haben ihre Wehrpflicht wohl an unterschiedlichen Orten abgeleistet, und dann hat Stefan ja hier Medizin studiert, und Anders war in Uppsala, glaube ich.«
»Aber der Mord, warum hat er mir nichts von dem Mord erzählt?«
Meine Stimme ist schrill und vorwurfsvoll. Ich sehe Majs erschrockenes Gesicht, und mir ist klar, dass ich zu weit gegangen bin.
»Aber Siri, bitte. Ich weiß es nicht. Woher soll ich das denn wissen? Stefan war in der letzten Zeit nicht er selbst. Wer weiß, warum er sich entschieden hat, wie er das eben getan hat. Ich kann dir das nicht sagen. Ich kann nichts von dem erklären, was Stefan getan hat. Meinst du denn, ich hätte mir nicht Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrochen, was in ihm vor sich ging? Ob ich es auf irgendeine Weise hätte verhindern können … Ich weiß noch, dass ich vorgeschlagen habe, er solle mit dir sprechen. Dass ich ihm erklärt habe, dass die meisten Lasten leichter werden, wenn man sie teilt, und dass die Ehe da ist, um Freuden und Kummer zu teilen. Aber er lachte nur und sagte, du seist die Letzte, mit der er darüber reden könnte.«
Maj ist rot geworden und sieht aufgewühlt aus. Ihre graugesprenkelten Haare lösen sich, und ihre Augen sind blank.
»Mein Sohn ist tot. Siri. Er wird immer tot sein, und nichts kann daran etwas ändern. Stefans Tod ist nicht nur deine Tragödie. Es ist auch meine und Stigs. Ein Kind zu verlieren, das versteht niemand, der das nicht selbst mitgemacht hat.«
Sie stellt die Tasse mit einem Knall auf den Tisch, und die heiße Flüssigkeit schwappt über. Wird zu großen feuchten Flecken in der Tischdecke.
»Entschuldige. Entschuldige, dass ich hergekommen bin und …« Ich verstumme und wende mich ab. Kann ihren Blick nicht ertragen.
»Siri.« Maj legt ihre schmale trockene Hand auf meine und drückt sie mit überraschender Kraft. »Liebe Siri. Es freut mich so, dich zu sehen, und ich freue mich für dich. Das musst du mir glauben. Ich wünsche dir alles Gute.«
Maj lächelt und steht dann auf, um die Rolle mit dem Küchenpapier zu holen. Mit kurzen, wohlüberlegten Bewegungen fängt sie an, die braunen Flecken zu trocknen, die sich auf der gemusterten Decke ausgebreitet haben.
Verlegen suche ich meine Sachen zusammen, stecke Anders’ Todesanzeige zurück in die Mappe. Plötzlich fällt etwas heraus und auf die Tischdecke – das Passfoto des dunklen hübschen Mädchens. Maj beugt sich vor, kneift die Augen zusammen und mustert das Bild.
»Weißt du, wer das ist?«
Aber sie schüttelt nur den Kopf und lächelt müde.
»Nein, tut mir leid. Ich habe sie noch nie gesehen.«
Beim Abschied umarmen wir uns fest und lange. Sie kommt mir klein und knochig vor wie ein Kind und riecht vage nach Seife und irgendeinem maskulinen Parfüm. Maj nimmt meine beiden Hände und sagt, ich müsse sie bald wieder besuchen. Dass wir in Kontakt bleiben müssen. Ich nicke und verspreche, das zu tun, sehe ihren Augen aber an, dass auch sie weiß, dass wir uns nie wiedersehen werden.
Caroline Helsén sieht mürrisch aus, sie verschränkt die Arme und lässt sich abwartend im Sessel zurücksinken. Sie erinnert mich an eine Lehrerin, die mit ihren Schülern unzufrieden ist und überlegt, wie sie die am besten zusammenstauchen kann.
Draußen fällt Schneeregen über Stockholm, der Himmel hängt schwer und blauviolett über den Dächern.
Caroline hat eine rote Stoffjacke über den Stuhl neben der Tür geworfen, und fast hätte ich sie daran erinnert, dass wir bei der Eingangstür durchaus eine Garderobe haben, aber ihre verbissene Miene lässt mich zögern.
»Ich wollte gar nicht kommen«, murmelt sie.
»Warum nicht?«
Langsam zuckt sie mit den Schultern und starrt ihre Knie an. Ihre Haare hängen in feuchten Strähnen um ihr blasses Gesicht, und Tropfen fallen in den
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