Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Zeit?«
»Es ist jedenfalls keinen Tag zu früh«, antworte ich voller Überzeugung.
Als sie gegangen ist, sitze ich an meinem Schreibtisch und bringe es nicht über mich, meine Notizen von den Terminen dieses Tages in unser neues Computersystem einzugeben. Alle Kraft scheint aus meinen Händen verschwunden zu sein, sie liegen wie taub auf meinem Knie, wie zwei unbrauchbare Fleischstücke. In den Ohren habe ich ein dauerndes Rauschen, ein wenig wie das Brausen des Sturms, der im Albtraum über das Eis gejagt ist.
Ich denke, dass der Sturm jetzt vielleicht hier ist, dass alles, was ich in diesen vielen Jahren zu verdrängen versucht habe, mich jetzt einholt. Dass man dem eigenen Schicksal vielleicht nicht weglaufen kann.
Ich beuge mich über meine abgenutzte Handtasche, wühle zwischen Kaugummipäckchen, Handschuhen und Mobiltelefon und finde es endlich.
Stefans Buch.
Es liegt kühl und schwer in meinen kraftlosen Händen. Langsam blättere ich zum Datum des Tages weiter. Es gibt zwei gekritzelte Notizen. Die eine ist fast unleserlich, aber nach genauer Untersuchung geht mir auf, dass es um einen Patienten geht, der zum Onkologen überwiesen werden muss. Bei der anderen geht es um das Laufen. »Odde-Kiosk – Buden – Müllstation, 10 km, 49 Minuten.« Stefan hat eine Joggingrunde in der Umgebung unseres Hauses beschrieben.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster, schaue hinaus auf den Medborgarplatz, wo die Leute in der Dämmerung umherwimmeln, dann fasse ich meinen Entschluss. Schalte den Rechner aus, suche meine Sachen zusammen und verlasse die Praxis.
Ich will sehen, was er gesehen hat. Ich will spüren, was er gespürt hat: den kalten Wind im Gesicht, die Stöße des gefrorenen Bodens, die sich ins Schienbein fortpflanzen. Genau diesen Weg hier ist Stefan gelaufen. Am gleichen Tag, nur fünf Jahre früher. Ich will wissen, was er gedacht hat.
Anders Holmberg.
Blonde Haare. Sommersprossen über der Nase, breite Schultern. Eine selbstsichere, aber offene Miene. Stefans Hände, die auf seinen Schultern liegen, berichten von Zusammengehörigkeit. Warum hat er mir nie von Anders erzählt, von seinem Tod?
Ich verdränge die bohrenden Gedanken. Konzentriere mich auf das Laufen.
Der Boden ist starrgefroren. Glatte Eisflecken bedecken den schlecht beleuchteten Weg. Ich ziehe mir die Mütze tiefer über die Ohren, sehe die Odde, die sich vor dem Horizont abzeichnet. Ich habe eine Stunde, ehe Markus und Erik aus dem Schwimmbad kommen. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich Joggen war, und ich weiß, dass zehn Kilometer viel zu viel sind, wenn man nicht trainiert ist, aber alle Zweifel und alle Müdigkeit scheinen verschwunden zu sein. Mein Herz hämmert, meine Lunge brennt, meine Beine fühlen sich wie Stöcke an. Als ich an der Odde vorbeikomme, muss ich mein Tempo drosseln. Ich merke, dass ich total erschöpft bin, und dabei habe ich noch nicht einmal den Kiosk erreicht.
Langsam jogge ich an Autos vorbei, die bei dem kleinen Fähranleger geparkt sind. Kein Mensch ist zu sehen. Am Strand ist das Eis geschmolzen und hat schwarzem schäumendem Wasser Platz gemacht. Laub vom vorigen Jahr treibt an den Steinen im seichten Wasser.
Ich überlege, ob Aina recht hat, ob ich Stefan idealisiere? Vielleicht wegen meiner eigenen Schuldgefühle darüber, was geschehen ist, über meine Unfähigkeit vorauszusehen, was er vorhatte, und ihn daran zu hindern. Und plötzlich bin ich einfach sicher. Er hat etwas mit sich herumgeschleppt. Ein Geheimnis. In all den Jahren habe ich geglaubt, seine Schwermut läge an dem Kind, das wir verloren haben, an dem Leben, das seinen eigenen Gang ging, das uns im Stich ließ. Aber was, wenn es etwas anderes gab, das ihn belastet hat?
Ein Geheimnis, von dem ich nie gewusst habe?
Ich nähere mich dem Kiosk, der um diese Jahreszeit ge schlossen ist. Eine mit Brettern zugenagelte dunkelgrüne Bude, die einsam und schief an einem schwarzen Felsen lehnt. Zwei ramponierte Fahrräder liegen daneben auf dem Boden, die Räder in die Luft gestreckt, wie die Skelette von längst verendeten Tieren. Plötzlich überkommt mich ein unbehagliches und unerklärliches Gefühl, verfolgt zu werden. Ich bleibe stehen, beuge mich vor und lasse die Hände auf den Knien ruhen, so erschöpft, dass ich mich zuerst nicht wieder aufrichten kann. Nach einigen Minuten bin ich zu Atem gekommen, ich strecke mich und schaue mich um. Zu meiner Rechten nur Tannenwald. Einzelne Straßenlaternen beleuchten den Kiesweg, in den
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