Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
hat.
Bengt nickt.
»Ja, wir haben einige Worte gewechselt. Er hat mir sein Beileid ausgesprochen. Ich habe gefragt, was er macht, und er hat erzählt, er sei Arzt und sei verheiratet. Er wohnte wohl draußen auf Värmdö.«
Ich nicke kurz, und Bengt erzählt weiter.
»Anders’ Tod hatte ihn mitgenommen. Aber so ging das ja allen. Maud hat monatelang Sobril genommen, obwohl sie diese Art Medikament eigentlich verabscheut. Aber ja, mitgenommen, bleich niedergeschlagen. Er ging direkt nach der Beerdigung, kam nicht mehr mit zum Kaffee. Ich glaube nicht, dass sie sich vorher getroffen hatten, aber ich weiß es nicht. Anders war am Ende so verändert. Wer weiß, ob er alte Freunde aufgesucht hat.«
»Verändert? Wie meinen Sie das? In welcher Hinsicht hatte er sich verändert?«
Bengt steht aus dem Sessel auf und geht zum Fenster. Kehrt mir den krummen Rücken zu und schaut zum blauen Himmel hinauf.
»Ein halbes Jahr, ehe Anders ermordet wurde, war er in einen Autounfall verwickelt. Er fuhr gern schnell und konnte unachtsam, unvorsichtig sein. Und es kam, wie es kommen musste. Im Krankenhaus sagten sie, es sei ein Wunder, dass er überlebt hatte. Das Auto war nur noch Schrott, aber er kam so ziemlich ungeschoren davon. Gehirnerschütterung und ein gebrochener Arm. Ein paar blaue Flecken. Rebecca war außer sich vor Zorn. Sie hatten doch die Kinder und … Jedenfalls, dieser Unfall hatte Anders verändert. Es war, als ob er eine zweite Chance erhalten hätte. Seine eigene Sterblichkeit erkannt. Was für eine Ironie, dass er nur wenige Monate darauf ermordet wurde!«
Ich kann Bengts Gesicht nicht sehen, höre aber den Schmerz in seiner Stimme. Und finde mich darin wieder. Dieses ewige Warum, der Begleiter, der immer neben uns geht, der unsere Aufmerksamkeit fordert.
»Worin hat sich diese Veränderung gezeigt?«
Ich versuche, meine Stimme weich und verständnisvoll klingen zu lassen. Gespräche zu führen ist mein Beruf, und ich kann es gut. Fast automatisch gleite ich in meine Psychologinnen-Rolle.
»Er fing an zu laufen, sowie der Arm verheilt war. Trank keinen Alkohol mehr. Passte auf eine neue Weise auf sich auf. Und dann … Anders war Wirtschaftsjurist, aber plötzlich fing er an, sich ehrenamtlich für Opfer von Verbrechen zu engagieren. Sagte, es sei seine Schuldigkeit, seine juristischen Kenntnisse nicht nur zum Geldverdienen zu verwenden. Und er zeigte deutlich, dass er nicht mit dem zufrieden war, der er gewesen war.«
Jetzt ist Zweifel in Bengts Stimme zu hören.
»Es war, als ob er glaubte, etwas sühnen zu müssen. Eine Schuld zurückzuzahlen.«
Stockholm 1988
Stefan saß allein in der Kaffeestube der Bäckerei Lindquist und wartete darauf, dass Anders’ Deutschstunde zu Ende wäre. Er selbst hatte Französisch gewählt und hatte deshalb donnerstagnachmittags eine Freistunde. Er nippte an einer Tasse mit heißem schwarzem Kaffee. Der bittere Nachgeschmack verriet, dass der Kaffee zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hatte. Die Kaffeestube war vollbesetzt und der Raum von Stimmen und Gelächter erfüllt. Fast an allen Tischen saßen Schüler des Gymnasiums.
Die Luft war vom vielen Zigarettenrauch trübe, und Stefans Augen brannten, und sein Hals juckte. Dennoch steckte er sich auch selbst eine Zigarette an. Danach zog er ein Taschenbuch hervor. Anders hatte das Buch empfohlen, ein Roman über einen Mann, der mit einem Würfel den Zufall alle seine Entscheidungen treffen lässt. Das Buch war unterhaltsam, und er konnte verstehen, warum es Anders gefiel, bei den gesellschaftskritischen Ideen, die der Autor offenbar vermitteln wollte.
Er selbst hatte seine Zweifel. Er konnte ja zustimmen, dass Moral und Ethik nur Konstrukte seien, das Ganze war interessant als intellektuelle Erörterung, als Gedankenspiel. Aber zugleich … wie sähe denn eine Gesellschaft ohne Normen aus? Außerdem müsste man sein Leben dahin lenken können, wohin man wollte, ohne sich von einem Würfel oder von ungeschriebenen Gesetzen lenken zu lassen. So war er jedenfalls erzogen worden, mit der Devise, dass jeder seines Glückes Schmied ist.
»Ist hier noch frei?«
Stefan schaute auf und sah Magdalena aus der Parallelklasse. Sie beugte sich ein wenig vor und lächelte mit geschlossenem Mund. Ihre langen braunen Haare hingen ihr ins Gesicht, und sie strich sie fast mechanisch weg mit einer Geste, die sie offenbar schon oft ausgeführt hatte. Stefan kannte Magdalena, da Anders kurz mit einer ihrer Freundinnen zusammen
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