Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
nur wenige Monate später ist Stefan tot.« Ich schüttele den Kopf und merke, wie Frustration und Trauer mich wieder ein holen.
»Das Problem ist, dass du dich in etwas vergräbst, das vor Jahren geschehen ist, und darunter leidet das, was du jetzt hast.«
Aina. Noch immer ruhig und klug. Keine Wut, keine Verärgerung.
»Markus versteht das. Er versteht, dass ich das wissen muss.«
»Wirklich?«
»Er versteht das.«
»Ich weiß nicht, Siri, und es gefällt mir nicht.« Aina ist im Sessel in sich zusammengesunken. Als hätte sie die Diskussion aufgegeben. »Es ist einfach kein gutes Gefühl. Vielleicht wirst du es bereuen. Nicht alle Geheimnisse müssen ans Licht.«
Dann zuckt sie plötzlich zusammen, setzt sich gerade auf, schaut mich an. Der Blick aufmerksam, intensiv.
»Übrigens, das hab ich vergessen. Hast du gestern unseren Antrag ans Gesundheitsamt ausgefüllt und losgeschickt?«
Etwas in meinem Magen ballt sich zusammen, und ich merke, wie meine Wangen heiß werden. Den Antrag? Ich habe einen gelben Zettel an den Rechner geklebt, um es nicht zu vergessen. Und dann … habe ich diesen Thread auf Flashback gefunden.
Ich öffne den Mund, ohne etwas zu sagen.
»Nein«, flüstert sie. »Sag, dass das ein Witz sein soll.«
Ich schüttele den Kopf, kann ihr nicht antworten. Ich weiß sehr wohl, dass die Zukunft unserer Praxis von diesem Antrag abhängen kann. Und ich denke, dass alles meine Schuld ist, ich habe es geschehen lassen. Ich habe die Vergangenheit mein Leben übernehmen lassen. Wie ein Gift breitet sie sich in meinem Dasein aus, beeinflusst alle, die mir nahestehen, meine Familie, meine Kollegen. Eine Sekunde lang wird mir schwindlig und schlecht. Ich beuge mich vor, drücke das Gesicht zwischen die Knie, sehe, wie unter mir das Parkett wogt, wie ein Meer im Sturm.
Aina fasst meine Hand.
»Ich weiß nicht, was mit mir vor sich geht«, flüstere ich.
Sie gibt keine Antwort, sondern presst nur meine Hand.
Stockholm 1988
Der große Raum war bis zum Bersten voll. In einer Ecke war eine provisorische Bar aufgebaut worden. Eine Frau, die knapp über zwanzig sein mochte, mischte Drinks und verkaufte Bier in Flaschen. Die Tische waren entfernt worden, und eine ziemlich mitgenommene Lautsprecheranlage pumpte die von dem langhaarigen DJ aufgelegte Musik heraus. Hunderte von Menschen bildeten eine kompakte Masse, die sich rhythmisch bewegte. Die weißen Mützen leuchteten im blauen Dämmerlicht.
Abifest.
Stefan hielt sich mitten in der verschwitzten Menschenmenge auf. Er blinzelte, ließ die Musik durch seinen Körper strömen, spürte, wie der Bass ihn im Rücken hämmerte. Er hatte noch nie so gut getanzt wie an diesem Abend. Es hatte noch nie einen so schönen Abend gegeben. Der Glücksrausch, der sich in ihm ausbreitete, hätte ihn fast laut aufschreien lassen. Nur noch Wochen übrig vom Schuljahr, dann ein langer freier Sommer mit Interrail und Spätsommerferien auf Gotland. Universität und Militär schienen weit weg zu sein. Es gab nur das Jetzt.
Er kniff die Augen zusammen und entdeckte plötzlich Anders mitten im Menschenmeer, er sah zufrieden aus. Sein Lächeln erinnerte mehr an ein wölfisches Grinsen, und Stefan fragte sich, auf wen er es abgesehen hatte. Auf jeden Fall schien er Erfolg zu haben. Stefan lächelte vor sich hin. Anders hatte sich einen Fick verdient, schließlich hatten er und Ulrik Koks erster Klasse besorgt.
Die Musik änderte sich, Orup statt Prince. Stefan versuchte die Tanzfläche zu verlassen. Es fiel ihm schwer, schwedischer Schlagermusik etwas abzugewinnen, weshalb er sich auf die Bar zubewegte. Durch Zeichensprache machte er der Blondine im engen schwarzen Kleid mit der kleinen weißen Schürze klar, dass er ein Bier wollte.
Als sie ihm das Bier reichte, nahm er für einen Moment ihre Hand, streichelte ihre langen Finger, die nach vielen Stunden im Solarium braungebrannt waren. Sie erwiderte seinen Blick, lächelte belustigt, fast überlegen. Auch Stefan lachte. Nicht einmal das herablassende Lächeln einer Barfrau konnte seine gute Laune stören.
Er war doch König. An diesem Abend war er König.
Ein Stück von ihm entfernt stand Ulrik am Tresen und spielte lässig mit einem Weinglas. Die dunklen Haare fielen ihm in die Augen, er biss die Zähne zusammen. Sein ganzer schmaler, sehniger Körper strahlte etwas Angespanntes und Hartes aus.
Stefan ging zu ihm, tippte seinen Rücken an und schrie ihm ins Ohr:
»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber
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