Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Liebes«, höre ich sie flüstern.
»Ach so, ja«, murmelt Marianne, und wieder einmal frage ich mich, wie klar sie sich über ihre verlorenen Fähigkeiten ist. Auf irgendeine Weise hoffe ich, dass sie es nicht versteht, bilde mir ein, das sei barmherziger.
»Ich wollte eigentlich nach Hause gehen«, sagt Aina. »Aber Siri, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Wir müssen den Antrag an das Gesundheitsamt mit Infos über die Praxis ausfüllen. Du weißt schon, das Übliche: wie viele Angestellte mit welcher Ausbildung und so weiter. Kannst du das abschicken? Du kannst dieselben Zahlen nehmen wie bei den früheren Bewerbungen, aber es ist wahnsinnig wichtig, dass sie es heute bekommen, sonst werden wir nicht berücksichtigt. Und davon hängt viel ab. Wenn wir den Zuschuss bekommen, sind alle unsere finanziellen Probleme für das kommende Jahr gelöst. Ja, entschuldige, ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich es selbst machen könnte.«
Ihre Stimme bricht.
»Kein Problem. Ich habe heute Nachmittag nicht viel vor. Ich mach das.«
Mein Klient lässt sich nicht blicken. Ich stehe an meinem Fenster und schaue auf den Medborgarplatz. Die Nachmittagssonne lässt ihn glühen, schimmern, trügerisch einladend wirken. Aber ich weiß, dass es eine Illusion ist. Es ist eiskalt, und ein harter Wind kommt von Norden her. Die Schlange vor dem griechischen Imbiss reicht fast bis in die Götgata. Durchgefrorene Stockholmer stehen dicht an dicht und warten auf Souflaki und frittierte Tintenfischringe.
Ich lasse mich vor dem Rechner nieder, spüre die Unruhe kommen. Schaue die Bilder auf meinem Schreibtisch an. Markus in Badehose beim letzten Griechenlandurlaub. Erik im Schlitten, die Familie meiner Schwester im Weihnachtswichtelkostüm. Alle, die mir nahestehen. Alle, die ich liebe.
Und wenn Stefan noch lebte?
Dieser Gedanke kommt von irgendwo, aber er ist nicht unlogisch. Ich habe viele Jahre mit Stefan geteilt, habe ihn wirklich geliebt. Da ist es doch kein Wunder, dass ich mich frage, was hätte sein können? Aber in der letzten Zeit befällt mich dieses seltsame Unbehagen, wenn ich an ihn denke, an Stelle von Sehnsucht und Trauer. Ein Verdacht, der sich mir aufdrängt. Habe ich Stefan wirklich gekannt? Gab es Dinge, die ich über ihn nicht gewusst habe? Denn wenn es so ist, dann … Wenn es so ist, ist auch mein Leben, wie ich es sehe, eine Lüge.
Muss mit A Schluss machen.
Ich kneife die Augen zusammen. Schlucke. Wage nicht, es auszusprechen. Will nicht einmal den Gedanken denken.
Was Maj erzählt und was Anders’ Vater gesagt haben, ist für mich verwirrend und beängstigend. Nicht nur, weil Stefan mir nie von diesem Anders erzählt hat, der ihm doch offenbar so nahestand, sondern auch, weil diese Beschreibung nicht mit meinem eigenen Bild von Stefan übereinstimmt. In meinen Augen war er begabt, überlegt, sensibel. Für Bengt war er ein Kämpfer, hart. Ein Mann, der vollendet, was er angefangen hat.
Gibt es eine Wahrheit?
Ich fröstele, ziehe meine Jacke an und schalte den Rechner ein, denke daran, dass ich unbedingt den Antrag schicken muss, um den Aina mich gebeten hat. Schreibe sicherheitshalber einen gelben Merkzettel und klebe ihn auf den Bildschirm.
Das Internet wird verseucht von allerlei Foren von unterschiedlicher Qualität zu allen möglichen Themengebieten. Ich habe einige Abende damit verbracht, in ein paar Foren Threads zu folgen, in denen es um den Mord an Anders Holmberg geht. Es gibt noch ein paar interessante, aber alte Threads, die ich dazu lesen will. Einige Klicks später habe ich Flashback aufgerufen, tippe »Karlaplanmord« ein und habe mehr als zwanzig Treffer. Die meisten habe ich schon gelesen. Ich folge einem der ältesten Threads von 2005.
User »Dash98« schreibt, die Tat sei Teil eines Komplotts, um einige führende Köpfe aus der Rüstungsindustrie zu beschützen. Welche Verbrechen diese Personen begangen haben sollen, bleibt unklar, und ich muss den Eintrag mehrere Male lesen, um überhaupt die Argumentation zu kapieren, da die Sprache so mies ist.
»Latinlover2«, der ein Foto von sich in einer äußerst knappen Badehose hinzugefügt hat, kann mitteilen, dass ein nach einem Überfall auf einen Geldtransport verurteilter Mann einige Jahre zuvor nur fünfzig Meter vom Tatort entfernt gewohnt hat. »Außerdem«, fügt er hinzu, »gibt es Beweise dafür, dass Teile der Beute im Park versteckt wurden.«
»LenaMie« schreibt: »Du bist nicht nur bescheuert, du
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