Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
zulaufe. Auch Stefan hat das getan. Im Winter die Bucht durchquert, um sich die lange dunkle Strecke durch den Wald vom Haus zur Hauptstraße zu ersparen.
Ich habe Metallspikes für meine Laufschuhe gekauft. Der Verkäufer hat beteuert, dass man damit ganz hervorragend durch Schnee und über Eis laufen kann. Sie lassen bei jedem Schritt ein leises Ticken hören. Ansonsten ist alles still. Das Haus hat sich in ein kleines helles Viereck verwandelt, das sich vor den hohen Bäumen an die Felsen schmiegt.
Was hat er gedacht, als er hier gelaufen ist, über das Eis? Über das, was sein Grab werden würde, nur wenige Monate später. Das Wasser, das mich zur Odde trägt, ist dasselbe, das seine Lunge gefüllt, das sein Bewusstsein ausgelöscht und sein Leben genommen hat.
Ich laufe schneller.
Jetzt ahne ich das Haus nur noch als schwachen Lichtpunkt im Schneegestöber, und stattdessen ragt vor mir die Odde als breite schwarze Landzunge auf. Das Licht einiger einsamer Straßenlaternen kennzeichnet die Bushaltestelle. Verlassene, eingeschneite Autos stehen daneben, wie Tiere im Winterschlaf.
Ich laufe weiter über das Eis. Die Stacheln klicken bei jedem Schritt laut.
Plötzlich ist sie einfach vor mir.
Die Rinne.
Schwarz und leer klafft sie vor mir. Ein Schlund, bereit, mich ins Meer zu saugen. Ich bleibe stehen, und die Stacheln tun ihre Arbeit, bohren sich in den Schnee, bremsen. Aber das reicht nicht. Ich stolpere, und mein rechter Fuß landet in dem kalten schwarzen Wasser mit einem schlürfenden Geräusch, wie dann, wenn das letzte Abwaschwasser abgesaugt wird.
Ich bleibe eine Weile auf dem Rücken liegen. Ein scharfer Schmerz im Steißbein hindert mich daran, mich zu bewegen.
Um mich herum fällt weiter der Schnee. Große Flocken landen in meinem Gesicht. Ich versuche nicht, sie zu ent fernen. Langsam drehe ich mich auf die Seite, fort von der Rinne, und ziehe das Bein aus dem Wasser. Es ist ohne Gefühl und schwer, und ich muss mit der Hand nachhelfen, um es aufs Eis zu wuchten.
Ich zitterte vor Angst, Kälte und etwas anderem. Einem schleichenden Gefühl, dass ich dabei bin, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Was jage ich eigentlich hier auf dem Eis, in der Dunkelheit?
Stefan? Die Wahrheit?
Meine Wirklichkeit ist hier und jetzt. Das Vergangene ist ein hungriges Tier, das gleich unter der Oberfläche unserer Wirklichkeit auf der Lauer liegt. Es will mir nichts Gutes, das weiß ich. Es will mich in das schwarze Loch ziehen, wartet nur auf den richtigen Augenblick. Den Moment, in dem ich die Sache aus dem Griff verliere. In dem ich nachgebe und widerstandslos in die offene Rinne gleite.
Langsam komme ich auf die Knie. Keuche vor Anstrengung und vor Schmerz im Steißbein. Ich schaue die Rinne an. Sie ist zu groß, um von einem Angler zu stammen. Sie hätte mich problemlos verschlungen, wenn ich hineingefallen wäre. Ich schleppe mich weiter davon weg. Komme auf meinen unsicheren Beinen zum Stehen und mache mich auf den Heimweg.
»Das hätte dein Tod sein können!«
Markus’ Stimme ist vorwurfsvoll mit einem dunklen, unheilverkündenden Unterton. Aber er hat recht. Ich hätte da draußen auf dem Eis ums Leben kommen können. Ich hab keine Antwort darauf, zittere nur unkontrolliert.
»Hier.«
Er reicht mir den Tee. Als ich versuche zu trinken, schütte ich mir die Hälfte aufs Knie, spüre aber nichts. Meine Beine sind von der Kälte betäubt.
»Ich begreife nicht, was du da auf dem Eis wolltest. Ich begreife nicht, warum du bei diesem Wetter überhaupt laufen musst. Du bist doch sonst nie gelaufen. Warum fängst du jetzt damit an? Mitten im Winter? Siri, was ist eigentlich mit dir los? Ich kenne dich gar nicht mehr.«
Das Letzte sagt er leise, und in seiner Stimme liegt Trauer.
Ich greife nach seiner Hand.
»Herrgott, du bist wirklich eiskalt.«
Er massiert meine Finger. Küsst meine Fingerknöchel.
»Entschuldige«, flüstere ich.
Er sitzt stumm neben mir, wartet ab.
»Es ist das mit Stefan. Ich muss einfach wissen, was passiert ist.«
»Stefan? Was hat er mit allem zu tun?«
Plötzlich bereue ich meine Ehrlichkeit, ahne, dass die Diskussion kein gutes Ende nehmen wird.
»Stefan ist dort immer gelaufen«, versuche ich zu erklären. »Und ich dachte, dass … ich weiß nicht. Dass ich vielleicht besser verstehen könnte, wie er gedacht und gefühlt hat, wenn ich das auch mache. Dass mir das helfen könnte zu verstehen, was mit ihm passiert ist.«
Markus lässt meine Hand los und
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