Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
zurückkommen wird.«
Ihre Stimme bricht, und ich greife nach der Kleenex schachtel. Sie schüttelt den Kopf.
»Ist schon gut. Also, es tut mir wirklich leid, darüber reden zu müssen, aber zugleich … etwas in mir scheint sich zu lösen. Wie dann, wenn das Eis schmilzt.« Sie lacht, ihre Metapher scheint ihr peinlich zu sein.
»Wie wenn Eis schmilzt?« Ich wiederhole ihre Worte und höre selbst, wie seltsam ich klinge. Wie der widerliche Inbegriff der Psychotherapeutin, die nur wiederholt, was die Klientin sagt.
»Ja, wie wenn das Eis schmilzt.« Caroline errötet. »Es tut mir leid, ich weiß, es klingt blödsinnig, aber ich habe wirklich das Gefühl, wieder etwas empfinden zu können. Früher war ich nur deprimiert, es ging mir schlecht, ich hatte Angst und überhaupt. Jetzt trauere ich. Aber es ist eine reine Trauer. Ich bin traurig, und es tut weh, aber nichts ist noch eingefroren oder versteckt. Ich versuche nicht, nichts zu empfinden. Oder mir einzureden, dass Darius zurückkommen wird. Denn das wird er nicht.«
»Und mit dieser Erkenntnis können Sie jetzt leben?« Meine Stimme zittert, als ich diese Frage stelle. Caroline weiß es nicht, aber mir ist es klar. Dass ich plötzlich zur Klientin geworden bin und sie zur Therapeutin. Dass ihre Antwort ungeheuer wichtig für mich ist.
»Es ist schwer. Ich werde mich immer fragen, was gewesen wäre, wenn er geblieben wäre. Hätten wir heute Kinder? Und wie würden die aussehen? Oder hätten wir uns doch getrennt, einige Jahre später? Ich bin alle möglichen Szenarien durchgegangen Aber ich muss akzeptieren, dass es eben so ist. Und dass das Leben weitergehen muss. Mein Leben muss weitergehen.«
Sie lächelt und schüttelt den Kopf, wie um zu betonen, wie naiv sie bisher war, ehe sie zur Erkenntnis kam. Ich selbst sitze still da und starre auf das Raster aus Sonne und Schatten, das die Jalousie an die Wand malt. Plötzlich finde ich keine Worte.
»Was ist los?«, fragt sie verwirrt, als ich so lange schweige.
»Sie haben erzählt, dass Sie die Wohnung ausgeräumt haben. Können Sie noch mehr erzählen?«
Caroline lächelt, und sie scheint mein Schweigen als eine Art therapeutischen Handgriff hinzunehmen. Ich bin dankbar dafür, dass sie mich nicht durchschaut.
Nicht meinen Neid sieht, meine Schwäche.
»Genau. Also, da saßen wir dann und hatten alles zusammengepackt und warteten auf die Leute von der Heilsarmee, und dann fingen wir an, über die Wohnung zu reden. Wir haben natürlich schon früher darüber geredet, aber da habe ich alles abgewiesen. Es gab immer jede Menge guter Gründe, um dort wohnen zu bleiben: die Miete, der Wohnungsmangel, die Nähe zur Uni … Aber jetzt merke ich, dass es das einzig Richtige ist. Ich muss da ausziehen. Und da sagte mein Vater, dass er und Yvonne ihr Haus verkaufen werden, und sie werden gut daran verdienen, weil sie seit einer Ewigkeit dort wohnen. Wenn sie dann eine Wohnung gekauft haben, dann bleibt noch Geld übrig, und Simon, das ist mein Stiefbruder, und ich werden etwas abbekommen. Als Vorschuss auf das Erbe sozusagen. Und das reicht für die Anzahlung für eine neue Wohnung.« Caroline sucht meinen Blick, scheint nach Zeichen für Unzufriedenheit oder Einwänden zu su chen. »Meinen Sie, es ist zu früh? Sollte ich noch warten?«
»Das kann ich nicht beantworten, das müssen Sie selbst entscheiden.«
Ich sehe die Enttäuschung in ihrem Blick und begreife, dass sie sich nach Bestätigung sehnt. Der Versicherung, dass sie auf dem richtigen Weg ist.
»Aber so wie Sie das erzählen, finde ich, es klingt wohlüberlegt. Und klug.«
Caroline strahlt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, während sie zugleich lacht.
»Gott, Sie müssen mich ja für total verrückt halten. Aber es ist ein so wunderbares Gefühl. Und wissen Sie was?«
Ich schüttele den Kopf, habe keine Ahnung, was sie sagen will.
»Das ist Ihr Verdienst. Ich freue mich so sehr, dass ich auf meine Freunde gehört habe und hergekommen bin. Ich wäre ohne Ihre Hilfe nie so weit gekommen. Ich habe wirklich alles nur Ihnen zu verdanken.«
Caroline sieht mich an und lächelt wieder. Ich lasse mich auf dem abgenutzten Laminosessel zurücksinken, blinzele und wünschte, ich könnte für mich selbst eine ebenso gute Therapeutin sein wie für andere.
Marianne hält einen blauen Schuhüberzug hoch, lässt ihn an ihren Fingern baumeln, damit alle ihn sehen.
»Der ist schmutzig«, sagt sie langsam. »Schmutzige Schuh überzüge kommen in den
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